Man hatte in den letzten Jahren nicht das Gefühl, dass „Modedesigner“ ein besonders gesunder Beruf ist. Überhaupt scheint kein Mensch in dieser Branche ganz bei Verstand, was ja auch irgendwie ihren Reiz ausmacht. Aber während die Journalisten nach vier Wochen Modenschauen noch eine Meinung haben müssen und die Einkäufer auf den Erfolg von 600-Euro-Schlabberpullis setzen, sind es die Designer, die zwar am meisten Ruhm und Geld einfahren, dafür am Ende aber auch als Erstes zusammenbrechen. Raf Simons, Hedi Slimane, Alber Elbaz, Stefano Pilati, Alexander Wang – man will gar nicht wissen, mit welchen Substanzen sich diese Leute in den Jahren vor ihrem Rückzug oder Rückgang zur eigenen Marke bei Laune gehalten haben. Allein deshalb ist fraglich, ob Karl Lagerfeld überhaupt ein Mensch, oder nicht doch ein ferngesteuerter Alien von einem anderen Stern ist.
Die Folge des großen Zeitdrucks, der die Modewelt heute über ihre eigenen Füße stolpern lässt, sind mittelmäßige, in drei Wochen zusammengeschusterte Kollektionen, aus denen einem vieles irgendwie schon bekannt vorkommt, was wiederum die Journalisten zu enttäuschten Kritiken veranlasst, von denen man eigentlich nur hoffen will, dass die armen Designer sie nicht zu lesen bekommen. In den letzten Saisons blieb nach der letzten Show in Paris immer ein schaler Geschmack von Überreiztheit und aufgeblasenem Glanz zurück. Vor allem die Traditionshäuser schienen irgendwie ratlos, ob beim radikal restaurierten Journalistenschreck Saint Laurent oder bei den Dolce-Vita-Clowns Dolce & Gabbana, die nicht müde werden, die Frau als puppiges Fertilitätswunder zu feiern.
Und dann kamen die Jungdesigner. Früher mal war es richtig schwer, sich als Jungdesigner auch nur in der Nähe eines Scheinwerfers zu positionieren. Zu ihren Schauen gingen Jungredakteure und Asiaten in dekonstruktivistischer Kleidung, auf der Suche nach Frischfleisch für ihren Avantgarde-Kleiderschrank. Aber spätestens seit dem Erfolg des aus der Asche des Pariser Untergrunds aufgestiegenen Kollektivs Vetements verpasst kein Chefredakteur mehr die Show einer potenziellen Nachwuchssensation, und mit Alessandro Michele und Demna Gvasalia besetzen erstmals zwei vormals Unbekannte die Chefpositionen der wichtigsten Traditionshäuser der Welt. Heute sind die Neulinge überall, ihre Meinung ist plötzlich wahnsinnig gefragt, und je rebellischer sie sind, je mehr sie das eingefahrene System, das der Modewelt gerade so zum Hals heraushängt, auf den Kopf stellen, desto mehr Erfolg haben sie.
Warum ist das so? In einer Zeit, in der sich die Halbwertszeit eines Modedesigners immer stärker verkürzt, in der die Kreativität immer schneller aufgebraucht ist, in der immer größere und pompösere Schauen vorbereitet werden müssen, während die Kollektionen der Verkäuflichkeit zuliebe einander immer mehr ähneln, erscheinen die jungen Talente plötzlich wie die guten Feen aus dem Märchenwald. Sie haben kein Geld, aber eine Meinung, sie sind frei und unabhängig und können sich entfalten wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling. Man hat noch zu wenig von ihnen gesehen, als dann man ihre Leistung mit der vom Vorjahr vergleichen könnte. Sie haben die Unbeschwertheit von angetrunkenen Teenagern. Ihr Vibe ist jung, er tut nicht nur so. Und während heute jede Bielefelder Modebloggerin auf ein Paar Nieten-Heels von Valentino sparen kann, sind bei wirklich stilbewussten Menschen genau jetzt aufregende Kleider ohne bekanntes Etikett gefragt.
An diesem Donnerstag verleiht der Luxuskonzern LVMH zum dritten Mal seinen prestigeträchtigen Jungdesigner-Preis. Die acht Finalisten heißen Aalto, Koché, Alyx, Wales Bonner, Brandon Maxwell, Vejas, Facetasm und Y/Project. Sie kommen aus unterschiedlichen Stilrichtungen und machen komplett verschiedene Dinge. Doch eine Sache eint sie: ihre Kollektionen sind erstaunlich tragbar. Während die Entwürfe vieler Jungdesigner früher eher Konzeptkunst als Kleidung ähnelten, Männer in Netzstrumpfhosen und Frauen in zerbeulte Zelte gesteckt wurden, ist das Konzept bei den Talenten von heute die Funktionalität, oftmals inspiriert von Sportbekleidung und Skaterkultur – eine Tendenz, die wir sicherlich auch Demna Gvasalia und seinem Kollegen Gosha Rubchinskiy zu verdanken haben.
Es wird ein heißes Rennen, so viel steht fest. Aber egal, welcher Designer heute den auf 300 000 Euro und ein Jahr Mentorship durch ein erfolgreiches Modehaus dotierten Preis mit nach Hause nimmt: kennen sollte man alle acht. Zu diesem Zweck haben wir hier bei C’est Clairette einen praktischen Spickzettel zusammen gestellt, damit man gleich Bescheid weiß, wer eigentlich dieser Matthew Williams ist, den Dior da zum neuen Chefdesigner ernannt hat (spontane Prophezeiung meinerseits).
Update: Die Gewinnerin des diesjährigen LVMH Prize ist Grace Wales Bonner. Sie erhält 300 000 € Preisgeld und ein Jahr Mentorship durch LVMH. Der Special Prize (150 000 € Preisgeld) ging an Vejas Kruszewski.
Name: Wales Bonner, gegründet von der jamaikanisch-britischen Designerin Grace Wales Bonner, ausgebildet am Central Saint Martins College. Grace Wales Bonner ist erst 25 Jahre alt, hat allerdings schon einen British Fashion Award abgestaubt und gilt als heißer Favorit für den LVMH-Preis.
Gründungsjahr: 2014 in London
Markenzeichen: Schmale 70er-Jahre-Silhouetten im Stil der eleganten afrikanischen Dandys, die aus ihren Wellblechhütten besser gekleidet heraustreten als so mancher englischer Banker. Grace Wales Bonners Großvater väterlicherseits war Schneider – man sieht es ihren rasant geschnittenen Anzügen mit Doppelreihern und Seidenwesten, den 60er-Jahre-Lederjacken mit Häkelkragen und feinen Strickleibchen an. Wales Bonner entwirft für Männer, ihre Kollektionen werden aber auch von Frauen gekauft. Dabei wirkt ihre Mode nicht unmännlich, sondern inspiriert von alternativen Idealen von Männlichkeit, die etwa den Körper stärker betonen.
Inspiration/Konzept: Hailee Selassie, der 1930 zum Herrscher von Äthiopien gekrönt wurde – gut zu erkennen an Wales Bonners Entwurf von einem Stirnband mit Perlenbordüre, das an eine Krone erinnert. Außerdem: militärischer Schmuck und Embleme, religiöse Trachten, die siebziger Jahre, Jazz, sehr wahrscheinlich Miles Davis
Gemacht für: Feinsinnige Männer, die selbstbewusst genug sind, in plissierten Hosenröcken aus dem Haus zu treten. Der Mann in Wales Bonner ist ein sinnlicher Flaneur, ein Lebensgenießer, der Blumen und Bücher liebt und das Haus nie ohne Mundwasser und Nageletui verlässt. Es erfordert Aufwand, dieser Mann zu sein, gleichzeitig verleiht es fast so was wie religiösen Seelenfrieden.
Name: Aalto, gegründet von Tuomas Merikoski. Zuvor arbeitete der gebürtige Finne in den Menswear-Teams von Givenchy und Louis Vuitton
Gründungsjahr: 2014 in Paris
Markenzeichen: Zeltartige Silhouetten mit versetzten Taillen und cleverem Layering (zum Beispiel: Zipppullover über Zipprock über langem Rock über Hose), das der Sache Form gibt; grafische Muster, die an Skikleidung erinnern; Hosen und Röcke mit übereinander geschichteten Faltenwürfen, überraschende Farbkombinationen (Rosa mit Senfgelb, Aubergine mit Royalblau), Patches mit den Titeln der Kollektionen (z.B. „Endless Sun“ und „Hellsinki“). Man könnte Aalto als das finnische Vetements mit eleganteren Schnitten bezeichnen
Inspiration/Konzept: Das indigene Volk der Samen, die im skandinavischen Lapland siedeln; kulturelle Identität und Tradition im Allgemeinen. Der Designer erklärt: “It’s about the challenge of holding onto your values while adapting to urban life and creating another identity without losing the one you have.” Aha.
Gemacht für: Selbstbewusste Kräuterhexen, die ihre Tage zwischen Fair-Trade-Coffeeshop, der Lippenstiftabteilung im Kaufhaus und ihrer mit Vintagemöbeln eingerichteten Garage verbringen, wo sie High-School-Filme aus den Neunzigern absorbieren und ihr konzeptuelles Videokunstprojekt vorantreiben
Name: Koché, das Label der Französin Christelle Kocher. Moment, da klingelt doch was? Richtig: Koché haben wir im vergangenen Oktober bereits hier kennen gelernt.
Markenzeichen: Christelle Kocher bestickt weite Mozartblusen von Hand mit Seidenblüten und Sporttops mit Pailletten und Federn, dazu kombiniert sie Regenparka und orangefarbene Männerjeans. In der aktuellen Kollektion gab es Prints von grellen, verschwommenen Motorcross-Aufnahmen auf T-Shirts und langen Kleidern zu sehen. Kocher ist die charmanteste Botschafterin der jungen Pariser Mode – in ihren Entwürfen vereint sie französische Schneidertradition mit der rotzigen Attitüde der Banlieue-Herumhänger. Wer sich unter diesem Vibe nichts vorstellen kann, schaut sich am besten das Video zur Herbst-Winter-Kollektion an, in dem Mädchen in transparenten Spitzenblusen und bunt gescheckten Pelzmänteln an Telefonläden und afrikanischen Friseursalons vorbei spazieren.
Inspiration/Konzept: In Kochers Worten: “I’m sharing my Paris with other people”
Gemacht für: Rihannas nächsten Bühnenauftritt
Name: Alyx, gegründet von Matthew Williams, der in Chicago geboren wurde und in Kalifornien aufwuchs. Bevor er sein Label gründete, arbeitete Williams als Creative Director mit Nick Knight und für Kanye West und Lady Gaga. Außerdem ist er Co-Gründer des DJ-Kollektivs Been Trill
Gründungsjahr: 2015 in New York
Markenzeichen: Gepflegter Punk aus luxuriösen Materialien und raffinierten Details: die Nadelstreifen auf dem breiten Cashmere-Blazer entpuppen sich bei näherer Untersuchung als aneinandergereihte „Alyx“-Schriftzüge. Weite Jeans sind pink oder glitzern wie CD-Scheiben, Overknee-Stiefel haben flache Plateausohlen, sind aber aus Lackleder; die Trompetenärmel fransen schön, und zu gestärkten weißen Hemden gibt es T-Shirts mit furchteinflößenden Gesichtern, für die sich Williams von den Masken der japanischen Künstlerin Shin Murayama inspirieren ließ. Dazu lehrt uns der Designer neue Tragevarianten für das Bandana-Tüchlein in Gedenken an Tupac den Großen
Inspiration/Konzept: Kalifornische Skaterkids, urbane Subkulturen, die Neunziger Jahre, das Rotlichtmilieu
Gemacht für: Frauen, die in einer Branche arbeiten, in der man nicht missverstanden wird, wenn man im Lackledermantel und trompetenweit ausgestellten Schlaghosen ins „Büro“ geht – also zum Beispiel New Yorker Nachtclubbetreiberinnen, Berliner Motorradbräute, Londoner Galeristinnen
Name: Brandon Maxwell. Studierte zunächst Fotografie an der St. Edwards University in Austin und arbeitete ab 2009 als Styling-Assistent, zuletzt für Nicola Formichetti. Seit 2012 ist er als Fashion Director für seine beste Freundin Lady Gaga tätig.
Gründungsjahr: 2015 in New York
Markenzeichen: Intellektuelle Weiblichkeit, klare, geschliffene Linien. Brandon Maxwells Kleider sind gestochen scharf, lasergenau geschnitten und wirken dank der geschmeidigen Silhouetten doch wie skulpturale Figuren aus einem Guss. Farblich hält er sich zurück, dafür stehen wellenförmige Draperien an Schultern und Schößchen im Vordergrund. Schwarze Blazer haben luftig abstehende Kragen, schmale Abendkleider wie aus Bonbonpapier drapierte Bustiers und hochgeschlossene Blusen wehende Flugärmel
Inspiration/Konzept: Als Kind verbrachte Maxwell viel Zeit in der Boutique in Longview, Texas, in der seine Großmutter arbeitete. Die dort ein und ausgehende mondäne Kundschaft, die der kleine Brandon fasziniert beobachtete, ist für ihn heute noch eine wichtige Inspirationsquelle. Manche Entwürfe erinnern außerdem an die Mugler’sche Präzisionskunst.
Gemacht für: Jessica Pearson, die bestgekleidete (leider nur fiktive) Anwältin des Jahrtausends aus der Serie Suits; alle Frauen, die gerne Jessica Pearson wären; alle Hollywoodstars, die auf dem Roten Teppich nie wieder im Windschatten von Gwyneth Paltrow schmoren wollen; meine Hochzeit (dieser Overall!)
Name: Vejas, gegründet von dem erst 19-jährigen Kanadier Vejas Kruszewski, Autodidakt
Gründungsjahr: 2015 in Toronto
Markenzeichen: Vom Suchen und Finden der individuellen Körperlichkeit handelt Vejas‘ geschlechtsunspezifische Kreuzung aus Schäfer- und Fliegerpilotenlook: wollene Tellerröcke zu Mini-Bomberjacken, Armreifen und BHs aus gefüttertem Fliegerjackenlammleder, voluminöse altrosa Filzmäntel mit Strickbündchen, von Arbeitsoveralls inspirierte Zippkleider aus Nylon, puristische Schürzenleider in Babyblau und Beige. Die Mischung ist WILD.
Inspiration/Konzept: Noch undefinierbar, wobei auf jeden Fall die undefinierten Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit eine große Rolle spielt. Über die Auswahl der Models für seine erste Show sagte Vejas: „It didn’t matter if it was a boy, a girl or a trans girl – it was about their persona“. Für sein aktuelles Herbst-Winter-Lookbook konnte Vejas das Trans-Model Hari Nef gewinnen.
Gemacht für: Sehr dünne Menschen bzw. alle, denen es egal ist, dass man in Vejas Klamotten immer leicht aufgeplustert aussieht
Name: Facetasm, gegründet von Hiromichi Ochiai
Gründungsjahr: 2007 in Tokio
Markenzeichen: Ochiais Kleider wirken wie zerschnippelte und neu zusammengesetzte Fundstücke aus der Verkleidungskiste: Bomberjacken und Tops werden von einem filigranen Netz aus verknoteten Bändchen zusammengehalten; zu fernöstlich puristischen Stehkragenhemden gibt es Plisseeröcke über weiten Hosen, oder, alternativ, Jeans und orangefarbene Warnwesten; und der Nadelstreifenanzug bekommt dank des asymmetrisch drapiertem Hosenrocks zum aufgeknöpften Hemd einen frischen Anstrich verpasst.
Inspiration/Konzept: Die Arbeitskluften westlicher und fernöstlicher Kulturen: Nadelstreifen, Anzughosen, blaue Hemden, Warnwesten, Nylonjacken. Außerdem: asiatische und westliche Pop-Kultur, Skaterjungs, die Antwerp Six
Gemacht für: Asiatische Avantgarde-Spürhunde, für die das Label Vetements schon alter Käse von gestern war, als wir es noch für den Namen der französischen Kleiderspendezentrale hielten
Name: Y/Project, gegründet von dem Belgier Glenn Martens, der an der Royal Academy of Antwerp sein Handwerk lernte
Gründungsjahr: 2013 in Paris
Markenzeichen: Martens‘ Entwürfe, laut Designer allesamt Unisex, sind schwer zu kategorisieren: manches wirkt radikal cool, wie die weite Hose mit Schlangenprint zum Tweed-Bustier und Herrenmantel. Anderes erscheint damenhaft und glamourös, wie die langen Lederhandschuhe zu Tops mit ultravoluminösen, geschnürten Ärmeln, die sich bei näherer Betrachtung allerdings als schlau drapierte Sweatshirts zu erkennen geben. Breite Ledergürtel betonen die Taille, dazu gibt es einarmige Kapuzenpullover, überlange Jeans, gestreifte Leibchen mit Schleifchen und Spitzenbordüre und knöchellange Persianer-Mäntel. Erstaunlicherweise ergibt all das kein chaotisches Kauderwelsch, sondern ein harmonisches Gesamtkunstwerk. Das verbindende Element ist die Unverbindlichkeit.
Inspiration/Konzept: Easy Rider? Marie Antoinette? Katharine Hepburn?
Gemacht für: Die nächste Generation von Carrie Bradshaws und Cher Horowitzes