Im Badeanzug ins Büro?

WIE GEHT DAS EIGENTLICH: "ANGEMESSEN" ANZOGEN SEIN?

claire-beermann_asia-typek_garance-doreIch bin nicht sicher, ob ich weiß, wie man sich „angemessen“ anzieht. Ich glaube, ich weiß nicht einmal, was „angemessen“ wirklich bedeutet. Neulich wurde ich auf einer Party von einem Arbeitskollegen als „die, die immer im Badeanzug ins Büro kommt“ vorgestellt. Er hat Recht – in meinem Leben ist jeder Tag ein casual friday. Bei sommerlichen Temperaturen trage ich gerne einen Badeanzug zu Shorts oder Rock. Seit zwei Monaten habe ich keinen BH mehr angehabt. BHs kneifen, sie lenken mich von der Arbeit ab, außerdem fühle ich mich wie Jane Birkin, wenn ich ohne einen herum laufe.

Ich arbeite in der Stilredaktion des ZEITmagazins. Bisher wurde ich wegen meiner Garderobe noch nicht zum Chef zitiert, mein Look scheint also toleriert zu werden. Sogar während meines Praktikums bei der ehrwürdigen FAZ interessierte sich keiner für meine Outfits. Einmal bekam ich einen wenig originellen Kommentar zu meinem asymmetrischen Fetzentop von Marques‘ Almeida zu hören („Frau Beermann, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie Ihren Jeansrock am falschen Körperteil tragen?“). Abgesehen davon hatte ich bisher aber immer das Gefühl, dass man als Modejournalistin anziehen darf, was man will, ohne an Seriosität einzubüßen.

Aber ich habe mich geirrt. Es gibt keinen Job auf der Welt, für den man anziehen kann, was man will. Denn im Beruf geht es nicht nur darum, sich auszukennen – ein großer Teil besteht darin, den Anschein zu erwecken, als würde man sich auskennen. Das ist ein großer Unterschied. Die Menschen sind voller Vorurteile, ich auch. Wenn mich meine Bankberaterin im pinkfarbenen Nicky-Sportanzug zum Anlagegespräch empfängt, dann werde ich ihr erstmal misstrauen, selbst wenn sie tatsächlich eine ganz geschickte Bankberaterin ist. Wenn ich als Modejournalistin im Nietenkleid von Phillip Plein herumliefe, könnte man an meinen Meinungen zu Christian Dior und Proenza Schouler zweifeln – selbst wenn meine Schauenkritiken noch so gut geschrieben wären.

Das alles klingt naheliegend. Wie schwer es tatsächlich ist, sich angemessen anzuziehen, habe ich allerdings neulich am eigenen Leib erfahren. Bei der Modekonferenz der Vogue und des ZEITmagazins sollte ich ein Podiumsgespräch mit Daniel Marks moderieren, einem wichtigen Marketingstrategen aus London. Im Publikum saßen unter anderem meine Chefs, Vogue-Chefin Christiane Arp, die von mir hoch verehrte Chefredakteurin des T Magazines Deborah Needleman, Business-of-Fashion-Gründer Imran Amed und die chinesische Stilikone Leaf Greener. Das Bild, das ich vor diesem erlesenen Publikum abzugeben gedachte,  erforderte einen Spagat zwischen zwei verschiedenen Rollen. Vor den anwesenden Kollegen wollte ich die kompetente Journalistin sein. Für Christiane Arp und Imran Amed die interessante Modefrau, die sich auskennt. Am Tag vor der Konferenz lag ich auf dem Balkon und grübelte, was ich anziehen sollte. Die besten Outfitideen kommen mir prinzipiell, wenn ich nicht vorm Kleiderschrank stehe. Aber diesmal fiel mir nichts ein.

Interessanterweise schien Leaf Greener, bekannt für exzentrische Looks mit knallbunten Accessoires, das gleiche Problem gehabt zu haben wie ich. Zur Konferenz erschien sie mit Hornbrille und im schwarzen Anzug. Offenbar hatte auch sie versucht, angemessen auszusehen – und dabei den eigenen Geschmack vergessen. Das ist der Fehler, den die meisten Menschen begehen, wenn sie versuchen, sich angemessen anzuziehen: sie haben dabei nur den Blick der anderen im Kopf. Eine Frau, die im Jahr 2016 noch im Nadelstreifenkostüm in die Anwaltskanzlei geht, glaubt, vor ihren männlichen Kollegen ein seriöses Bild abzugeben. Dabei würde sie wahrscheinlich mächtiger wirken, wenn sie ein elegantes Kleid trüge.

tumblr_m751n32llm1qigzqao1_1280samantha-the-look-03-1024hbz-hillary-clinton-0505-gettyimages-528542822_1real--zAngemessen angezogen sein heißt, das Outfit auf den Anlass abzustimmen. Wer im Chanelkleid wandern geht, sieht garantiert albern aus. Es heißt aber auch, sich wohl in seiner Haut zu fühlen. Das tut man, wenn man weiß, wer man ist, und dazu steht. Es gibt Menschen, die in einem Minirock so angemessen aussehen, dass sie darin sogar ins Büro gehen können – wenn sie die richtige Beinlänge haben und dazu kein bauchfreies Top, sondern zum Beispiel ein schickes Männerhemd kombinieren. Wenn es ein Rezept für das ominöse Ideal der Angemessenheit gäbe, dann vielleicht das: Man sollte immer ein Outfit tragen, das teils die eigene Persönlichkeit und teils die äußeren Umstände berücksichtigt. Jessica Pearson tut das in der Serie „Suits“. Samantha Jones in „Sex and the City“. Hillary Clinton bei den US-Demokraten und die Queen im Buckingham Palace. Und ich laufe im Büro neuerdings in oben abgebildetem Strickkleid herum. Es ist rückenfrei, aber knöchellang, ich muss darin keinen BH tragen, meine Nippel sieht man aber auch nicht durchscheinen.

Und bei der Modekonferenz? Da entschied ich mich schließlich für ein schulterfreies Lolita-Top mit Planetenprint, eine flaschengrüne Marlenehose und schwarz-weiße Loafer. Ich sah aus wie ich – und das ganz ohne Badeanzug.

Kleid von Rachel Comey, Handtasche von J.W. Anderson, Sandalen von Ancient Greek Sandals. Foto: Asia Typek