Drei Tage Schweigen

WIE ICH LERNTE, DEN MUND ZU HALTEN

tumblr_lngxewvcrq1qafi93o1_1280Schweigen ist Gold, hat mir mal eine Schulkameradin in der dritten Klasse ins Poesiealbum geschrieben. Ich konnte mit dieser Weisheit damals nichts anfangen. Was sollte denn am Schweigen so toll sein? Ich habe schon immer gerne geplappert. Ich rede viel, ich rede laut, ich unterbreche Leute, obwohl ich weiß, dass es unhöflich ist, aber mir brennt einfach so viel auf der Zunge, was ich loswerden will. Manchmal bin ich auch vorlaut, und nicht selten sage ich Dinge, die ich schon eine Minute später bereue gesagt zu haben. Man könnte sagen, dass ich meine Stimme manchmal nicht ganz unter Kontrolle habe.

Dafür hat sie mir jetzt einen Strich durch den Hals gemacht. Jahrelang bin ich mit rauer Stimme herumgelaufen, nach jeder Party war ich heiser, einmal sollte ich mit komplett lädierter Stimme einen Vortrag halten, öffnete den Mund und brachte tatsächlich keinen Ton hervor. Vor zwei Monaten ging ich also zu einem Professor in die Charité, und dort schob man mir einen langen dünnen Metallstab mit Kamera an der Spitze in den Hals, so tief, dass ich beinahe mein Frühstück da gelassen hätte. Dazu sollte ich „Aaaaah“ singen, das klang ungefähr so: „Rähhrhrhrhrhr“. So fand man heraus, dass ich Knötchen auf den Stimmbändern hatte. „Da müssen wir operieren“, sagte Herr Professor. Ein kleiner Eingriff, aber ich müsste zwei Tage in der Klinik bleiben und würde drei Tage nach der Operation nicht sprechen dürfen. „Kein Wort?“, fragte ich und fand die Vorstellung jetzt schon aufregend. Was für eine Herausforderung. „Kein Wort!“

Und so lernte ich zu schweigen.

Am Wochenende vor der Operation ist meine Familie zu Besuch. Bei den Beermännern ist es schwer, zu Wort zu kommen, meistens reden wir alle gleichzeitig. Belauschte man uns hinter einem schwarzen Vorhang, würde man uns für eine türkische Großfamilie halten, dabei sind wir nur zu viert plus Hund. In meiner Familie besteht ein permanenter Zwang, seine Meinung kundzutun. Jeder Standpunkt wird verteidigt. Wir haben uns auch alle angewöhnt, beim Sprechen prophylaktisch die Stimme zu heben, nur für den Fall, dass einen gleich wieder einer unterbrechen könnte. Ich will meiner Familie nicht anlasten, mir das Schweigen ausgetrieben zu haben. Ich meine nur, dass Sprechen bei uns eine Art Sport zu sein scheint.

Nachdem ich also ein ganzes Wochenende mit meinem Clan verbracht habe, bin ich reif für den Operationstisch. Meine Stimme fühlt sich so an, als hätte ich Schmirgelpapier gegessen. Viele Leute finden das sexy, ich finde es anstrengend. Meine Stimme hat einen Muskelkater. Sprechen finde ich nach kurzer Zeit ermüdend – so wie ein Arm erlahmt, wenn er mit voller Kraft einen Acker umgräbt, ermüdet meine Stimme, wenn sie länger als 20 Minuten Laute produzieren soll.

„Wie geht es Ihnen?“, fragt mich Herr Professor, als ich am Montagmorgen mit nichts weiter als einem weißen Tuch und einer Vlies-Unterhose bekleidet im Maschinenraum vor dem Operationssaal liege. „Toll“, krächze ich und versuche einen Scherz, als mich der Anästhesist routinemäßig fragt, was wir heute operieren, nur für den Fall, dass ich aus Versehen im falschen Operationssaal gelandet bin. „Die Prostata?“ Um mich herum wuselt ein Haufen Leute in grünen Anzügen, überall piept es, in meinem Arm pocht die Infusionskanüle, und ich finde das alles sehr aufregend. Ich weiß, dass man sowas nicht sagen sollte, aber jetzt mal unter uns: das allseitige Interesse an meinem Zustand ist schon irgendwie toll.

Erst als ich das Tablett mit den Messern und Zangen und langen, gabelartigen Instrumenten sehe, wird mir klar, dass gleich jemand an meinen Stimmbändern herumschnippeln wird. Herr Professor war gerade im Urlaub. Was, wenn er aus der Übung ist? Ihm die Hand ausrutscht und er aus Versehen mein ganzes Stimmband durchschneidet? Manche Leute haben mich gefragt, ob sich meine Stimme durch die Operation verändern wird. Was, wenn ich mit piepsender Fistelstimme aufwache? Oder mit gar keiner Stimme? Ich muss an die „Drei ???“-Folge „Im Bann des Voodoo“ denken, da kommt so eine Frau vor, die mit einem Kehlkopfgerät sprechen muss und wie ein Roboter klingt. Ist das mein Schicksal? Meine Stimme ist doch mein Kapital. Warum fällt mir das erst jetzt ein? Dann sehe ich die Infusion tropfen und mein Arm wird ganz warm und ich habe das Gefühl, auf einer Luftmatratze über das Meer zu gleiten. Sehr schön ist das. „Schlafen Sie gut“, sagt der Anästhesist.

Mein erster Gedanke beim Aufwachen: nicht sprechen. Bloß nicht sprechen. Ich stelle mir vor, wie mein verwundetes Stimmband bei der leisesten Schwingung einreißt und ich einen Schwall Blut huste oder so was. Das darf nicht passieren. Die Krankenschwester zieht mir ein Nachthemd an und fährt mich in einer gläsernen Brücke über die Straße ins Zimmer. Da ist noch keiner, mein Handy hat man mir auch abgenommen, und durch die geschlossene Tür dringt kein Laut. Die erste Schweigeprobe beginnt.

Es ist nicht so, dass ich noch nie für eine längere Zeit geschwiegen habe. Manchmal ist man ja sonntags allein zuhause, liest die Zeitung, geht spazieren, räumt die Wohnung um und hat am Ende des Tages noch kein Wort gesagt. Aber immerhin hatte man was zu tun. Oder hat geschlafen. Und wenn man wirklich gelangweilt war, dann konnte man sich mit sich selbst unterhalten. Ich bin müde, aber kann nicht schlafen, eine Beschäftigung habe ich auch nicht, und Selbstgespräche sind verboten. Ich bin also allein mit meinen Gedanken, dem Krankenhauszimmer, der kneifenden Infusionskanüle im Arm und meinem grüß-weiß gemusterten Nachthemd, das hinten offen ist und in dem ich jetzt gut wie Jack Nicholson in „Was das Herz begehrt“ über den Krankenhausflur tanzen könnte, aber ich glaube, das sehen sie hier nicht gern, außerdem ist mir schwindelig.

Nach einer halben Stunde, in der ich ausgiebig an die Decke gestarrt, das Monet-Bild an der Wand angeschaut, erfolglos versucht habe, die Rückenlehne des Bettes zu verstellen, auf Geräusche aus der gegenüberliegenden Nervenklinik gelauscht, ein bisschen auf meiner Krankenhausschreibtafel für Stimmbandpatienten herumgekritzelt und versucht habe, mich mit der Langeweile zu arrangieren, wird eine Frau ins Zimmer geschoben. Auch sie hat „Stimmruhe“ verordnet bekommen, aber was das heißt, hat sie wohl nicht verstanden. Auf jede Aussage der Krankenschwester antwortet sie mit „Hmmmh“, kapiert die das nicht, dass man auch zum Summen seine Stimmbänder braucht? Ich werde richtig ärgerlich, weil sich die Tante nicht an die Regeln hält. In meinem Kopf herrscht eine wahnsinnige Unruhe, die Gedanken wirbeln herum und wollen nach draußen und dürfen es nicht. Meine innere und meine äußere Stimme haben offenbar viele Gemeinsamkeiten.

Dann kommt meine Familie reingeschlichen. Ich bin außer mir vor Freude. So ein bisschen verloren komme ich mir hier nämlich schon vor, komplett abgeschnitten von der Welt. Die drei stehen schüchtern an meinem Bettende herum und trauen sich irgendwie nichts zu sagen, denn ich sage ja auch nichts. Ich kritzle also eifrig drauflos, und winke und lächle und da wirken sie erleichtert, offenbar sieht man erstmal gestört aus, wenn man nicht mehr spricht, vielleicht müssen sie sich aber auch noch an die neue, schweigende Clairette gewöhnen. „Erzählt mir was“, schreibe ich, aber ihnen fällt nicht viel ein, komisch, dass die das nicht ausnutzen, dass ich endlich mal nicht dazwischenreden kann.

„Wenn du nicht mehr reden darfst“, sagte mein Freund, als er von meiner bevorstehenden Operation erfuhr, „komme ich vorbei und erzähle dir endlich all das, was ich schon immer in aller Ruhe loswerden wollte.“ Als er später vorbeikommt, sagt er nicht viel, offenbar ist es nicht so einfach, mit jemandem zu sprechen, der selbst nicht spricht. „Wie ist es, nicht zu sprechen?“, simst mir meine Freundin Louisa, und ich schreibe zurück, tatsächlich sei es ganz angenehm. „Toll“, schreibt Louisa, „mach‘ nächstes Jahr mit mir Vipassana. 10 Tage Schweigen.“ Ich habe nur eine vage Idee davon, was Vipassana sein soll, aber ich stelle es mir weitaus schwieriger vor, als in einem Krankenhausbett zu liegen, den ganzen Tage Filme zu schauen und sich von seinem Freund Essen aus der Galeries Lafayette ans Bett liefern zu lassen. Es ist ja nicht so, dass ich vom Leben isoliert bin. Ich kann SMS schreiben, gestikulieren, lächeln, knutschen, den Erzählungen anderer lauschen. Ich kann kommunizieren. Bei Vipassana ist das, glaube ich, verboten.

Jetzt habe ich noch eine dritte Zimmermitbewohnerin bekommen, dafür ist die zweite gleich ausgezogen, die hatte anscheinend was Besseres vor. Dafür hat die dritte lange schwarze Haare und ist Opernsängerin, sogar mit Wikipedia-Eintrag. Wir liegen beide stumm nebeneinander und lächeln uns gelegentlich aufmunternd an und kritzeln hin und wieder Fragen auf unsere Tafeln. Aber ein Unterhaltungszwang besteht nicht. Das Anschweigen, das sonst mit Fremden immer so komisch ist, funktioniert zwischen uns ganz ausgezeichnet. Wie herrlich es ist, keinen angestrengten Smalltalk führen zu müssen. Ich fange an, das Schweigen zu genießen.

Zwischendurch kommt immer mal wieder eine Krankenschwester herein, um nachzuschauen, ob wir noch am Leben sind, den Puls zu messen und Fragen zu stellen. Leider kann ich nur sehr vereinfacht kommunizieren und werde entsprechend schlecht verstanden. Ich war noch nie behindert und erlebe zum ersten Mal, wie es ist, von nicht-behinderten Menschen mit wohlmeinender Herablassung behandelt zu werden. Weil ich nicht sprechen kann, meinen offenbar manche, ich sei generell nur zu schlichter Verständigung fähig. Das ist ein bisschen so, wie wenn meine Mutter mit ihrer polnischen Putzfrau redet und dabei automatisch auf deren Sprachniveau absteigt:“Sie heute bügeln, ja?” So fragt mich auch die Krankenschwester: “Schmerzen? Aua?”, anstatt es mit einem zivilisierten „Frau Beermann, in Kürze gibt es Morphium“ zu versuchen. Einmal brauche ich eine neue Schreibtafel, die alte ist kaputt. So einfach ist das aber nicht zu erklären.

“Ach, neue Schreibtafel?“, fragt die Schwester irgendwann.

Ich nicke erleichtert.

„Na klar. Gelb? Rot? Grün?”

(IST MIR DOCH EGAL!)

“Gelb? Jaaaaa? Schön, na also.”

Am Abend wird es noch stiller auf unserer Station. Um 20 Uhr schlafe ich ein. Um Mitternacht wache ich auf, weil die blöde Infusion immer noch in meinem Arm steckt und aus der Nervenklinik das Gekeife einer von Gespenstern Verfolgten herüberschallt. Ich frage mich, ob ich mehr auf Geräusche achte, seitdem ich selbst keine mehr von mir gebe. Am nächsten Morgen bin ich erschöpft von der schlaflosen Nacht, aber ich merke auch, wie sich das Schweigen positiv auf meinen Kopf auswirkt – langsam kommt er zur Ruhe. Ich denke nicht mehr an meine To-Do-Listen, sondern gebe mich bereitwillig der Langsamkeit hin.

In der ZEIT lese ich ein Plädoyer für gutes Zuhören. Bernhard Pörksen schreibt über die zwei Ohren des Menschen – das Ich-Ohr, mit dem man nur hört, was die eigenen Lebensansichten bestätigt, und das Du-Ohr, das sich auf den Sprecher einlässt und versucht, seinen Standpunkt zu verstehen, selbst wenn er einem selbst unbequem erscheint. „Zuhören wird so zum Auftakt echter Begegnungen, letztlich zu einer Form des Liebens, wie der Psychologe Erich Fromm einmal schrieb“, meint Pörksen. „Und doch: Häufig regiert das glatte Gegenteil, das bewusste und halb bewusste Weghören, hm, hm, ja, hm, nein, nein, doch, ich hab dir zugehört!“ Beim Lesen muss ich daran denken, dass auch ich oft abwesend bin, wenn mir Leute was erzählen. Dass ich in meinem Kopf häufig schon meinen nächsten Satz vorbereite, während mein Gegenüber noch spricht. Dass ich, weil ich mich selbst so gerne reden höre, vielleicht auch eine schlechte Zuhörerin bin.

Am Nachmittag kommt mich wieder mein Freund besuchen, und weil man mir endlich die Infusionskanüle abgenommen hat, können wir draußen spazieren gehen. Ich höre mir ausgiebig an, was er erzählt, was ihn beschäftigt, er fragt auch nach meiner Meinung, ich tippe sie in mein Handy. Als wir auf einer Bank vor der Nervenklinik sitzen, kommt ein Mann auf bloßen Füßen vorbeispaziert. „Hallo!“ sagt er, als würden wir uns kennen, mein Freund grüßt höflich zurück und ich nicke ihm zu. Wer weiß, was in seinem Kopf vorgeht. Vielleicht ist er viel gesünder, als wir glauben, vielleicht denkt er nur einfach anders als wir? Schweigen hilft, sich in sich selbst und in andere hineinzuversetzen. Es ist die einfachste Form der Besinnung. Viele Leute besuchen für so etwas Yogakurse oder laden Meditationsapps herunter. Dabei würde es reichen, einfach mal die Klappe zu halten.

Als ich in mein Zimmer zurück komme, ist da eine neue Zimmermitbewohnerin. Sie hat rote Haare und lange Beine, ihr Lidschatten ist blau und ihre Schultern ziemlich breit. Morgen, erklärt sie mir mit tiefer Stimme, werde sie operiert werden. Und warum ich hier sei? Und wie ich heiße? Lesen kann sie nicht so gut. Fortan nennt sie mich Klarie. Und obwohl ich nur schlichte Fragen auf meine Tafel kritzeln kann und unsere Kommunikation durch diese Einschränkung doch eigentlich ziemlich distanziert sein müsste, erzählt sie mir bald, dass sie früher ein Mann war und sich morgen den Kehlkopf verkleinern lassen werde. Sie erzählt, wie schwer sie es als Kind gehabt habe, wie einsam sie immer gewesen sei und wie ängstlich, und wie sie die Kollegen an ihrem Arbeitsplatz erst akzeptierten, nachdem ihnen nichts anderes übrig geblieben war, als mit ihr zusammenarbeiten. Sie hat liebe Kuhaugen und einen traurigen Blick, der verrät, was für einen weiten Weg sie zurückgelegt hat. „Unten ist schon alles fertig“, erklärt sie mir, das sei aber eine ganz schöne Prozedur gewesen, überhaupt erstmal einen Arzt zu finden, und dann habe sie nach der Operation fünf Tage bewegungslos daliegen müssen.

Obwohl ich mich weigere, ihr meine Handynummer zu geben, nach der sie fünf Minuten nach unserem Kennenlernen fragt – was natürlich nichts mit ihr zu tun hat, dem Professor würde ich die auch nicht geben – freue ich mich über die Begegnung, vielleicht ist sie das Beste an diesen drei Tagen im Krankenhaus. Weil ich neulich im Flugzeug neben einer Transsexuellen saß und fest davon überzeugt war, dass sie nach Zwiebeln und Schweiß roch, wobei es wohl eher meine festsitzenden Vorurteile waren, die da stanken. Weil mir nichts anderes übrig blieb, als mir die Geschichte dieser Frau anzuhören, weil ich nicht dazwischen reden oder kritische Fragen stellen oder ein fiktives Telefonat führen konnte, um mich nicht unterhalten zu müssen. Weil ich einfach mal zugehört habe.

Am nächsten Tag werde ich entlassen. Am Tag darauf darf ich wieder vorsichtig sprechen. Meine Stimme klingt dünn und brüchig, und der Hals tut weh. Am Montag bin ich wieder im Büro, meine Stimme klingt jetzt klar und hell, aber ich muss noch aufpassen. „So leise wie du neuerdings sprichst“, sagt Kollege Tillmann, „denkt man immer, du würdest gerade etwas besonders Wichtiges sagen.“ Interessant, dass man nicht das Gegenteil denkt: dass mein Gesagtes kein Gewicht hat, wenn es nicht laut daher dröhnt. Als ich abends mit meinem Freund diskutiere und er mittendrin kurz aus dem Zimmer geht, kann ich ihm nicht hinterherrufen, dass ich aber anderer Meinung bin. Ich darf die Stimme noch nicht heben. Also behalte ich meinen Widerspruch für mich. Und bemerke zum ersten Mal, dass es mich nicht schwächer macht, nicht zu allem meinen Senf dazuzugeben. Ich habe ja immer gedacht, mich in allem verteidigen und rechtfertigen zu müssen, weil nichts zu sagen stiller Zustimmung gleichkäme. Aber so ist es nicht. Im Gegenteil: nicht zu sprechen ist tatsächlich eine Form von Überlegenheit. Wer weniger spricht, hat mehr Zeit zu denken. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, dann erinnere ich mich, dass es dort im Deutschunterricht Leute gab, die das schon konnten: wenig sagen, das dafür aber mit umso mehr Gewicht. Sie wussten es besser als ich. Schweigen ist Gold.