Gibt es einen Zusammenhang zwischen Mode und Weltgeschehen? Mit dem viel beschworenen Untergang messbarer Tendenzen – Trends – wurde der Mode ja eigentlich abgesprochen, irgendeine gesellschaftliche Strömung oder gar den Zustand unserer Welt abbilden zu können. Dafür schien sie viel zu unentschieden und launisch. Aber vielleicht liegt das daran, dass die Gegenwart selbst genauso schwer zu enträtseln ist? Dass wir im Sekundentakt von neuen Informationen überhäuft werden, die schon wieder alt sind, bevor wir Zeit hatten, sie einzusortieren?
Die Mode, die in den letzten Wochen über die Laufstege rauschte, war eine trotzige Antwort auf die düsteren Zeiten, in denen wir leben – bedroht von Terror, Donald Trump und gesellschaftlicher Polarisierung. Der überlässige Lumpenlook, mit dem Vetements, das Rebellenlabel vom Dienst, die Modewelt in den vergangenen Saisons infiziert zu haben schien, ist wieder Stoff von gestern. Was wir jetzt brauchen, ist Mode, in der man feiern kann, dass man am Leben ist.
In New York zeigte Rosie Assoulin glamouröse Strandgarderobe: bunt gestreifte Schlaghosen, üppig geblümte 70er-Jumpsuits, Smiley-T-Shirts, riesige Strohhüte. Jonathan Saunders feierte mit seinem Debüt bei Diane von Fürstenberg die weibliche Silhouette: mit einer luftigen Interpretation des Wickelkleides, Fußkettchen zu silbernen High Heels und barocken Blumendrucken. In London inszenierte Charlotte Olympia eine Varieté-Show im Stil der 40er Jahre, mit quietschvergnügten Models in Melonen- und Erdbeerkostümen. Bei Prada sind Ärmelmanschetten, Hosensäume und Rockschlitze mit Federbordüren verziert, Pyjama-Ensembles schillern in kaleidoskopischen Mustern. Über die bodenlangen Tüllröcke bei Christian Dior schwirren Bienen, dazu gibt es Halsbänder mit Sternchen und T-Shirts mit feministischen Kampfansagen. Eine gewagte Idee von Eleganz stellt Glenn Martens bei Y/Project vor: Sweatshirts tragen Rüschen und Ballonärmel, überweite Hosen lassen sich seitlich aufknöpfen, aus gestreiften Hemden drapiert er er Korsagen, dazu gibt es Overkneestiefel aus Samt, kristallbesetzte Stilettos (aus Chinatown, wie der Designer verriet) und Perlencolliers. Valentino ist ein Traum in Himbeerpink und Kirschrot, mit märchenhaften Wüstenlandschaften, die über Plisseekleider wuchern, Puffärmeln und Mini-Miniauderes, in die gerade mal ein Kondom passt. Und während die großen Modeketten noch Demna Gvasalias Underground-Look kopieren, zeigt der bei Balenciaga glamouröse Achtziger-Fetisch-Kleider: rote Ledermäntel, geblümte Spandex-Anzüge mit Kristallbroschen, bonbonfarbene Strumpfstiefel und Lederhandschuhe zum pinkfarbenen Midikleid.
Die Party, die die Mode da feiert, ist natürlich nichts für alte Schachteln. Mondän ist nicht gleich madamig. Bei Jacquemus verschwinden die Models unter ihren riesigen Strohhüten in die Sommerfrische, dazu tragen sie weiße Blusen mit Ballonärmeln und Spitzenkragen und taillenhohe Leinenhosen. Die Kollektion ist eine Hommage an die Provence, die Heimat des Designers. Bei Givenchy sind die messerscharfen Hosenanzüge mit Zipptaschen versehen, die Rüschenkleider mit Konfetti bedruckt und die asymmetrischen Cocktailkleider mit Fransen gesäumt. Das erinnert an Audrey Hepburns Party-Garderobe in „Frühstück bei Tiffany“, die ja auf unvergessliche Weise den beschwingten Glamour der Sechziger Jahre einfing und gleichzeitig niemals alt wurde.
Beschwingt waren auch die Models in der Show von Maison Rabih Kayrouz. Endlich mal keine dürren Frauen, die mit toter-Fisch-Blick über den Laufsteg klapperten. Stattdessen engagierte der libanesische Designer ein Ensemble des Pariser Staatsballetts, das in weißen Baumwollkleidern mit Wolkenprint, zitronengelben Fransenröcken und violetten Jumpsuits über die Bühne tanzte. Die Kollektion sprühte vor Farben, Leben und Bewegung, nach der Show trat man erfrischt vor die Tür wie nach einem Sprint durch den Sommerregen. Ist das nicht genau die Stimmung, die man sich von neuer Mode erhofft?
Der Hype um Vetements und seine Nachahmer wurde von vielen mit der Sehnsucht nach mehr Realitätsbezug in der Mode erklärt. Aber diese Rechnung hat einen Fehler, den Leandra Medine auf Man Repeller mal sehr schön auf den Punkt gebracht hat: „You want to lose your shit over clothes that make you feel like 18th century royalty while you’re washing the dishes in real life. But to wear clothes that make you feel like you’re about to wash dishes? Where’s the grand illusion there?“ In dieser Saison hat die Fantasie, der Feind der Realität, in der man Geschirr spülen und Tagesschau gucken muss, wieder gute Karten. Eine schwarze Jogginghose von Vetements kostet 800 Euro. Für das gleiche Geld kann man sich auch das Gefühl kaufen, auf dem Weg zu Slim Aarons Poolparty zu sein, zum Beispiel in einem der grafisch gemusterten Hemdblusenkleider von Miu Miu. Oder in den New Yorker Nachtclub Studio 54, dem die Kollektion von Kenzo mit Nylon-Jumpsuits und Glitzer-Bauchtaschen gewidmet war. Es ist nichts falsch daran, mit Mode der grauen Wirklichkeit entfliehen zu wollen – im Gegenteil.
Natürlich ist die neue Mode trotzdem tragbar, und man will sie auch tragen. denn Glamour entstellt nicht, sondern machen schön. Das klingt erstmal nicht nach großer Innovation. Aber ist die Forderung nach mehr Radikalität in der Mode nicht sowieso ein Insider-Problem? Vier Wochen lang rennen Journalisten, Einkäufer und Stylisten durch die Modestädte, um sich neue Klamotten anzugucken. Natürlich ist man da spätestens in Mailand komplett reizüberflutet und genervt und schreibt Artikel wie Angelo Flaccavento. Der beklagte auf Business of Fashion einerseits, dass man auf den Laufstegen heutzutage immer das Gleiche zu sehen bekäme, nämlich Produkte statt Ideen, und andererseits, dass dieses Laufstegeinerlei nichts mit dem echten Leben zu tun hätte. Flaccaventos Rede ist erstens ein Widerspruch und zweitens hohles Gejammer. Denn am Ende sehen die meisten von uns in radikalen Kleidern vor allem lächerlich aus und passen auch in Rei Kawakubos von der Presse hochgelobten, zweieinhalb Meter breiten Mänteln durch keine U-Bahntür.
„When they go low, we go high“, sagte Michelle Obama, als sie im Juli auf dem Parteitag der Demokraten sprach – und genau das scheint der Leitspruch der Saison gewesen zu sein. Denn Mode ist immer ein Spiegel des Weltgeschehens. Das will nur keiner glauben, weil Mode eben keine messbaren Fakten abbildet, sondern Gefühle. Man kann an ihr nicht ablesen, wie es mit der Flüchtlingskrise weitergeht. Aber man sieht ihr sehr wohl an, wie emanzipiert die Menschen sind und wie offen, welcher Kultur sie angehören, welches Frauenbild sie vertreten, wovon sie träumen und wovor sie Angst haben. Überall auf der Welt werden wir heute mit Konflikten konfrontiert. Nicht mal in Paris, der Stadt der Lichter und des Champagners, ist man noch sicher. Wer will schon im Grufti-Pullover herumlaufen, wenn draußen die Welt untergeht?
(Die Vogue sieht das auch so!)
Headerafoto: Y/Project. Alle Laufstegbilder über Vogue Runway