Heute habe ich eine Frau mit blau-lila Stachelfrisur gesehen. Mein erster Impuls war, ihre Haare hässlich zu finden. Dann dachte ich: Pass bloß auf. Diese Frisur könnte bald sehr gefragt sein. Die Modewelt hat ja noch aus jedem vermeintlichen Outsider einen Insider gemacht – aus der Bauchtasche, aus dem Michelin-Anorak, aus der Wäschetasche, sogar aus der gruseligen Crocs-Sandale. Die kann man jetzt mit feinen Strumpfhosen tragen, siehe Christopher Kane. Seit Kurzem träume ich von einem Overall aus schwarzem Vinyl, oder, noch besser, einem Lack-Trenchcoat. Ich bin auf der Suche nach einem Paar weißer Stiefel. Ich habe mir eine Leopardenhandtasche von Fendi gekauft. Außerdem brauche ich wahrscheinlich bald eine pinkfarbene Strumpfhose. Total verboten, würde mein Vater diesen Look nennen. Aber es besteht kein Zweifel: verboten ist neuerdings sowas von erlaubt. Der Trash-Look aus traditionell geschmackloser Kleidung, die Uniform der primitiven Unterschicht, hat Konjunktur.
[rev_slider alias=“trash“]
So ist die Mode: ständig schärft sie ihren Blick auf neue Welten. Die Mode ist eine einzige Fernreise, permanent auf der Suche nach dem Abwegigen, das noch niemand je so auf einem Laufsteg gesehen hat. Das kann man der Mode hoch anrechnen: sie erfüllt im Grunde einen ganz vorbildlichen Integrationsauftrag. Die Modewelt liebt Frauen, Männer, Zwitter, Einbeinige, Dreiarmige, sogar Roboter. Sie macht keinen Unterschied zwischen Religion, sexueller Orientierung oder Nationalität. Das belgische Supermodel Hanne Gaby Odiele wird gerade in den sozialen Netzwerken und auf Vogue.com gefeiert, weil es sich als intersexuell geoutet hat. Die Mode liebt das Aparte, Andere, Außenstehende. Das ist schön und gut.
Allerdings bedient sie sich dabei auch immer wieder der Codes bestimmter Identitäten. Ist das nicht irgendwie gemein? Eine Frau, die jahrelang weiße Stiefel und Bauchtasche trug, um sich abzugrenzen vom versnobten Bürgertum, muss nun mit ansehen, wie ihr Look zur Mode verkommt. Plötzlich sind alle wild und verrucht, sogar die braven Modebloggerinnen und ihre Anhängerschaft. Eine Frau, die heute in Lackleder-Overknees eine Nobelboutique betritt, wird nicht mehr rausgeschmissen, sondern hofiert. Mädchen, die vor gar nicht langer Zeit all ihr Erspartes für einen grauen Acne-Schal hinblätterten, wollen jetzt gerne eine Netzstrumpfhose tragen, am liebsten unter zerlöcherten Jeans. Ich warte auf das Comeback von Moonboots und superkurzen Daunenjäckchen.
Natürlich spielt die Mode auch immer mit Ironie. Der Pretty-Woman-Chic ist nicht ganz ernst gemeint, im Gegenteil: neue Mode will ja provozieren, irritieren und ihren Trägerinnen damit das Gefühl geben, ein einzigartiges Bild abzugeben. Den bauchfreien Trainingsanzug von Alessandra Rich kann man als ironisches Zitat des Proletariats verstehen. Aber was sagen diejenigen dazu, die schon immer, und zwar ohne einen Anflug von Ironie, in so einem Anzug herumgelaufen sind? Freuen sie sich, weil sie mit ihrem Look jetzt „dazu gehören“ – oder sind sie sauer, weil sie nie darum gebeten haben? Was passiert eigentlich, wenn in der Mode alles erlaubt ist, wie in den letzten Jahren immer mehr zu beobachten war? Die Frau mit den blau-lila Stachelhaaren trägt diese Frisur mit einer klaren Botschaft: sie will sich abgrenzen. Was passiert, wenn blau-lila Stachelhaare Mainstream werden? Kann man für einen bestimmten Look Besitz beanspruchen? Oder darf die Modewelt sich überall bedienen?
Geht es um kulturelle Aneignung in der Mode, sind die Kritiker gleich zur Stelle. Verschrien ist die Bezeichnung „tribal fashion“ für alles, was nicht europäischen oder nordamerikanischen Bekleidungstraditionen entspricht. Weiße sollen keine Zopffrisuren tragen, weil sie sich damit einem starken Identifikationssymbol der afroamerikanischen Kultur bedienen, von dem sie keine Ahnung haben. Auch die Kleiderfarbe „Nude“ steht in der Kritik, weil damit immer nur helle Fleischfarbe gemeint ist, niemals dunkle.
Aber was ist zum Beispiel mit dem Underground? Ist der nicht auch sowas wie eine eigene Ethnie, die geschützt werden müsste? Dass der Underground längst nicht mehr Underground ist, wissen wir spätestens seit dem Aufstieg von Vetements. Rebellierende Jugendkulturen sind schon früher ausgestorben. Weder als Punk noch als Popper kann man heute noch Anstoß erregen. Springerstiefel und Polohemden wurden sozialisiert. Rebellieren mit Kleidern funktioniert nicht mehr, weil rebellische Kleider heute Mode sind und damit massenhaft Zustimmung bekommen.
Dass es sich bei alledem um einen automatischen Prozess handeln muss, der nicht aufzuhalten ist, dass sich die Mode überall bedient, wo sie kann, weil Innovation immer schwieriger wird, haben wir längst verinnerlicht. Mode ist heute eben demokratisch! Ist doch toll, dass jetzt alle, die Nutten, die Großmütter und die russischen Assis, an der Mode teilnehmen dürfen. Letztes Jahr, als alle Welt Gosha Rubchinskiys Russe-aus-der-Vorstadt-Look feierte, habe ich mich darüber mit einem Russen unterhalten. „In Russland“, sagte er, „laufen die sozial Schwachen in dem herum, was Gosha Rubchinskiy und Demna Gvasalia in Paris auf dem Laufsteg zeigen.“ Ist das nicht auch eine Form der kulturellen Aneignung? Vor allem, wenn die modische, also erlaubte Version des Russen-Looks 2000 Euro kostet?

Ich hatte eine kurze Phase, in der ich Rubchinskiy und Vetements ganz cool fand, und zwar deshalb, weil ihre Ideen so irritierend waren, die Models glatzköpfig und die Kleider schief geschneidert. Ich habe auch mal was von Vetements anprobiert, aber festgestellt, dass ich das nicht bin, dass ich verkleidet aussähe in einem Look, der aus Drogenparties in Kellerclubs zu stammen schien. Heute sehe ich diese Kleider überall, und zwar an Menschen, die rein gar nichts Irritierendes an sich haben. Der Drogenparty-Look sitzt jetzt bei Starbucks und trinkt Latte Macchiato. Mode entwertet das Aparte, indem sie es allen zugänglich macht.
Obendrein tut die Modewelt ja auch nur so, als hätte jeder darin einen Platz. Tatsächlich entscheidet sie allein, ob und wann du dazu gehörst und wann nicht. Melania Trump wird für ihre Nacktfotos, die vor 15 Jahren in der GQ erschienen, von allen Seiten verhöhnt. So anders sieht man in den neuen Trash-Kleidern der Luxuslabels aber auch nicht aus. Ein Look der superangesagten New Yorker Marke Alyx hat sogar Ähnlichkeit mit Melanias rotem String-Bikini. Aber klar, die Hipstermarke ist erlaubt, Melania Trump nicht. Und falls du dich eben noch gefreut hast, dass du dein Nutten-Kostüm vom letzten Halloween-Fest jetzt auch zum Restaurantbesuch tragen kannst, sei gewarnt: der Nutten-Look ist schon Mainstream, und damit kurz vorm Absturz. Bald wirst du dich davor in den Fußgängerzonen kaum noch retten können. Von der Fußgängerzone ist der Weg nicht weit in die Verkleidungskiste. Dort wird dein Lackmantel bald ein tristes Dasein fristen, bin ihn deine Tochter eines fernen Tages ans Licht zurückbefördert, weil ihn die Modewelt wieder begnadigt hat.
Und sollte die blau-lila-Stachelfrisur eines Tages mal wirklich total sexy werden, wäre die Frau, die ich damit auf der Straße sah, noch lange nicht modisch. Ein Outsider, der die Welt der Insider betritt, muss sich erstmal einem Makeover unterziehen, das wissen wir aus jedem High-School-Film. Die Frau müsste sich nach all den Jahren als stolze Blau-lila-Stachelfrisur-Trägerin also erstmal von der Vogue erklären lassen, wie sie ihre blau-lila Stachelfrisur denn zu stylen hat.
Ich habe keine wirkliche Lösung für dieses Problem, ich denke bloß laut. Alles, was ich weiß, ist, dass ich keinen schwarzen Lackmantel mehr haben will. Ich hatte mir einen im Internet gekauft, aber irgendetwas muss mit meinem Hirn nicht in Ordnung gewesen sein, jedenfalls habe ich ihn aus Versehen zwei Größen zu klein bestellt. Je länger ich über den Lackmantel nachdenke, desto weniger bin ich darüber traurig, keinen zu besitzen. Vielleicht bin ich zu streng mit der Mode und mir selbst, die ich mich immer wieder verführen lasse. Aber wahrer Stil ist für mich immer noch, sich von der Mode nicht vorschreiben zu lassen, wann verboten verboten ist und wann nicht.