Zum Davonlaufen

WELTFLUCHT IST DAS THEMA UNSERER ZEIT. ABER WOHIN FLIEHEN?

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Ich bin in einem Dorf aufgewachsen. Das Dorf gehörte noch zu Hamburg, aber ein Dorf war es trotzdem. Wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich einen Komposthaufen. Hinter dem Komposthaufen wuchsen Tannen, und hinter den Tannen lagen weite Felder, auf denen Schafe grasten. Der Handyempfang in meinem Zimmer war sehr schlecht. Ich weiß, wie Stille klingt, denn da, wo ich aufgewachsen bin, kann man die Stille hören. Als ich mit 18 nach Berlin zog, suchte ich mir eine Wohnung mitten in der Stadt. Zentraler als ich kann man nicht wohnen. An meinem Fenster führt eine vierspurige Straße vorbei, auf der immer Verkehr ist, auch um 4 Uhr morgens. Spanische Touristen grölen nachts vor der gegenüberliegenden Bar und pinkeln in meinen Hauseingang. Ich bin in drei Minuten beim Supermarkt und habe im Umkreis von hundert Metern die Wahl zwischen zwei Sternerestaurants, drei japanischen Suppenküchen und vier Falafelbuden. Es gibt in meinem Viertel Obdachlose und Junkies, Familien mit Kindern und Grafikdesigner. Manchmal fühle ich mich hier wie am Mittelpunkt der Welt. Verrückt, dass heute sehr viele Menschen an Orte wie den wollen, von dem ich abgehauen bin.

Das merkt man an den dreihunderttausend Achtsamkeits- und Zurück-zur-Natur-Büchern, die seit Jahren den Markt fluten, oder an Modebloggerinnen, die von ihrem ersten Urlaub ohne Handy erzählen, als hätten sie ein gewagtes chemisches Experiment durchgeführt. Man merkt es aber auch an den aktuellen Modekampagnen, die seit einigen Wochen in den Hochglanzmagazinen zu sehen sind. Weltflucht ist da ein Riesenthema. In der Anzeige von Alexander McQueen steht ein zartes Mädchen im bodenlangen Spitzenkleid auf einer Sanddüne. Bei Givenchy posieren die Models in einer roten Steinwüste, bei Mango laufen sie über roten Sand, bei Stella McCartney führen sie am Strand wilde Tänze auf, was teilweise nach Selbsthilfegruppenübungen für Ausgebrannte aussieht. Bei Céline posiert eine Handtasche auf einer Säule, die aus dichtem grünem Gestrüpp herausragt, während Frame sein Model unter eine Palme stellt, daneben ragt ein brauner Felsen vor einem grauen Ozean in den Himmel. Bei Prada schlummert eine junge Frau mit schwarzem Ledertäschchen am Arm zwischen Strandroggen, bei Miu Miu geht man in geblümten Badeanzügen und blütenbesetzten Hauben auf Tauchgang. Edie Campbell voltigiert im wehenden Versace-Parka. Repossi engagierte statt eines Models ein sehr minimalistisch dekoriertes Schlafzimmer, von wo der Blick durchs Fenster auf Baumkronen fällt. Die Aussicht erinnert mich an mein Kinderzimmer. All diese Schauplätze eint, dass man dort höchstwahrscheinlich keinen Handy-Empfang hat, einen also weder nervige To-Do-Emails noch verstörende Push-Nachrichten erreichen können.

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Alexander McQueen
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Givenchy
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Mango
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Stella McCartney
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Stella McCartney
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Céline
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Frame Denim
Prada
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Miu Miu
Miu Miu
Versace
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Repossi
Repossi

Vor der Welt verstecken kann man sich allerdings nicht nur im Wald, sondern auch sehr gut in sich selbst. Der Instagram-Hashtag #selfcare verzeichnet aktuell über 1,8 Millionen Einträge, auf denen überwiegend junge, weiße Frauen vormachen, wie man seine Seele pflegt und sich selbst genügt. Accounts wie @gratitude.daily posten Fitnessstudio-Selfies gespickt mit Weisheiten wie „Life isn’t about yourself, but creating yourself“ oder „It is not about being good at something. It is about being good to yourself.“ Für viele Menschen ist angesichts der aktuellen Weltlage offenbar nichts beruhigender, als sich ausgiebig selbst zu betrachten – beziehungsweise: betrachten zu lassen. Das haben Marken wie Gucci verstanden, in deren Reklame sich die Models gegenseitig fotografieren, oder Marni, wo Frauen mit großen Kameras ins Nichts blitzen, oder Moschino, wo sich Gigi und Bella Hadid ihren Weg durch einen Dschungel aus Fotografen bahnen – die Traumsituation jeder Vorstadt-Influencerin. Die ständige Lust auf Selbstdarstellung, für manche längst ein Fulltime-Job, ist letztlich auch eine Form der Realitätsflucht und Ausdruck des Bedürfnisses, den Blick von den unbequemen Dingen in der Welt abzuwenden.

Gucci
Gucci
Marni
Marni
Moschino
Moschino

Aber wo kommen wir hin, wenn wir immer nur davonlaufen? Wird die Welt eine bessere, wenn wir uns nur noch zurückziehen und selbst lieben? Jordan Kisner zitiert dazu im New Yorker den Philosophen Harry Frankfurt, der einmal gesagt hat, dass „in order to care about the things and people we love, we have to care and love ourselves, because we have to endorse the cares and loves that we have.“ Leider kann ich mir bei den Avocadobrot-Yoga-Jüngerinnen kaum vorstellen, dass sie bei all dem Aufwand, den sie für das eigene Wohlbefinden betreiben, noch Zeit haben, auf etwas anderes als den eigenen Körper zu hören.

Ich finde, dass die Modehäuser, genau wie die Buchverlage und Instagram-Stars, in der Pflicht stehen, neue Vorschläge zu machen. Könnten sie in ihren Kampagnen nicht mal Einblicke in fremde Milieus geben? Ich wüsste aktuell zum Beispiel gern mehr über die Pariser Vororte. Ich verstehe natürlich, dass es lukrativer ist, potenzielle Kundinnen mit Bildern anzusprechen, die bekannte Sehnsüchte visualisieren. Aber können Modeanzeigen durch die Macht der Bilder nicht auch ein Bewusstsein für Themen schärfen, die wirklich wichtig sind? Geschafft haben das in dieser Saison erstaunlich wenige: darunter die Marke Diesel, für die David LaChapelle eine Kampagne unter dem Motto „Make Love Not Walls“ entworfen hat. Vor einem herzförmig in eine Betonmauer eingeschlagenen Loch liegen sich da junge Leute in den Armen, zwei Männer küssen sich, Blumen wuchern durch das Loch, herrlich. Kitschig, aber immerhin mit zeitgemäßer Botschaft! Die Kampagne wird eine Mauer nach Mexiko vielleicht nicht verhindern – könnte den Betrachter aber dazu anregen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Auch die Kampagne des New Yorker Designers Brandon Maxwell hat Inhalt. Er hat das Model Riley Montana im Haus ihrer Kindheit in Detroit fotografieren lassen, im Wohnzimmer posiert sie neben einem alten Fernseher und zwischen ihren Verwandten. Im Video zur Kampagne läuft sie im schwarzen Abendkleid an Baracken und Mülltonnen vorbei und erzählt davon, wie sie sich lange Zeit verstellte, um geliebt zu werden. Die Kampagne gibt einen Einblick in eine amerikanische Familie und eine Stadt, die für eine von vielen Wunden der USA steht. Mit ihrer Geschichte spricht Riley Montana auch für andere Frauen – und berührt damit mehr als jede Wüstenidylle.1203448 Bildschirmfoto 2017-03-30 um 16.21.35Ja, es war schön in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und ich bin stolz darauf, eine Amsel von einer Ente unterscheiden zu können. Und ja, ich glaube auch, dass es wichtig ist, auf sein Wohlbefinden zu achten. Aber ständig übermüdet und immer im Stress sind wir unter anderem deshalb, weil uns die Weltfluchtinseln schlechthin, nämlich Instagram und Facebook, von morgens bis abends von den wirklich wichtigen Dingen fernhalten: davon, echte Freundschaften zu pflegen, mal die Verwandten in der Heimat anzurufen, die Zeitung gründlich zu lesen, bevor man eine Meinung zu den Dingen hat, andere Stadtteile und Milieus kennen zu lernen, anstatt das Wochenende im Namen der #selfcare im Bett zu verbringen. Und langsam gleichen die Hymnen auf den Rückzug aus der vernetzten Welt und die Pflege des Ichs ja auch einer gefährlichen Ideologie, die, wie Jordan Kisner schreibt, den Dogmen Donald Trumps gar nicht unähnlich ist: „Perhaps it is not surprising, then, that beneath the face masks and yoga asanas, many of the #selfcare posts sound strangely Trump-like. ‚Completely unconcerned with what’s not mine‘ is a common caption. So is ‚But first, YOU,‘ and the counterfactual ‚I can’t give you a cup to drink from if mine is empty.'“

Interessant ist in diesem Zusammenhang noch die Kampagne des New Yorker Labels Eckhaus Latta, die diese Woche veröffentlicht wurde: zu sehen sind dort hetero- und homosexuelle Paare beim Sex. Also, mittendrin. Was provokant klingt, ist erstaunlich ästhetisch, ja, irgendwie fast poetisch. Nur kann ich ich mich nicht entscheiden: sehen wir auch hier nichts anderes als Weltflucht (wer denkt beim Koitus schon an den Brexit)? Oder doch ein Statement zur Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe? Oder gar eine Erinnerung daran, dass #selfcare schlecht für die Geburtenrate ist? Fragen über Fragen. ELSS17_6 ELSS17_1 ELSS17_5

Headerbild: Alexander McQueen