Immer wieder sehe ich im Winter Männer im T-Shirt, manchmal sogar in kurzer Hose draußen herumlaufen. Es sind 3 Grad Celsius, die Leute spähen mit hochgezogenen Schultern und roten Nasen zwischen Bergen von Wollschals hervor. Nur mit diesen Männern im T-Shirt ist irgendwas anders. Meistens tragen sie von Kopf bis Fuß schwarz. Sie sehen aus wie Nerds, wie Informatiker oder Physikstudenten. Manche von ihnen haben lange Haare, als müssten sie die fehlende Kleidung mit umso mehr Fell kompensieren. Dazu sind ihre Handgelenke voller bunter Bänder, von den Festivals, auf denen sie im vergangenen Sommer bei 30 Grad mehr im gleichen Outfit gerockt haben.
Ich hatte bisher immer zwei Theorien für dieses Phänomen. Erstens: Männer, die im Winter draußen im T-Shirt rumlaufen, tragen gar keine normalen T-Shirts, sondern T-Shirt-förmige, elektrisch aufgeladene Atomansammlungen aus dem Physiklabor, die Strom leiten können. Deshalb ist einem in ihnen, sofern ich das mit meinem überschaubaren physikalischen Fachwissen richtig verstanden habe, immer warm. Wer so ein „T-Shirt“ trägt, kann auch Lampen zum Leuchten bringen und Induktionsherde zum Glühen. Wie genau das funktioniert, können die Physikstudenten unter ihnen besser erklären. Aber es hat definitiv irgendwas mit Feldern zu tun. Und mit Atomen.
Zweitens: Männern, die im Winter draußen im T-Shirt rumlaufen, ist schweinekalt, aber weil es im Informatik-Institut kaum Frauen gibt, müssen sie jede sich bietende Möglichkeit nutzen, weibliche Blicke auf sich zu ziehen. Das geht gut, wenn man bei Eiseskälte im T-Shirt herumläuft. Regt sich bei den Frauen der mütterliche Instinkt, „Ist dir nicht kalt?“, kann der Mann im T-Shirt ganz cool antworten: „Nee, gar nicht! Alles frisch bei mir“ und sich damit endlich mal so heldenhaft wie die Football-Kapitäne aller amerikanischen High Schools zusammen fühlen.
Seit dieser Woche ist nun eine gänzlich neue Theorie dazugekommen. Beim vorweihnachtlichen Klassentreffen tauchten überraschend und nahezu geschlossen die Physik- und Informatikleistungskurse auf. Früher waren das die Nerds, die jeden Videorekorder von 1973 zum Laufen bringen konnten, was Coolness betraf aber komplett unterbelichtet zu sein schienen. Jetzt fand ich die Jungs ziemlich lustig. Wir unterhielten uns prächtig, draußen vor einer Bar, es waren ungefähr 2 Grad. Ich trug meine lammfellgefütterte Fliegerjacke. Zwei von den Nerds nichts weiter als ein T-Shirt. Der eine hatte sogar seine Hose hochgekrempelt. Ihre T-Shirts waren schwarz und mit den Logos irgendwelcher Heavy-Metal-Bands bedruckt. Beide studieren Informatik und fahren jeden Sommer zum Wacken-Festival. Nachdem sie erfolglos versucht hatten, mir zu erklären, wie ein Induktionsherd funktioniert, konnte ich mich irgendwann nicht mehr zurückhalten.
„Ist euch nicht kalt?“, platzte es aus mir heraus, dabei hasste ich mich selbst für die Frage, ich mag es nämlich gar nicht, wenn mich jemand fragt, ob mir in meinem wohl überlegten Outfit nicht schrecklich kalt sei. Aber diese beiden mussten doch kurz vor dem Kältetod stehen.
„Gar nicht!“, sagte der eine, und tatsächlich sah er überhaupt nicht verfroren aus. „Mir ist total warm“, fügte der andere hinzu. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt mit ihnen redete. Früher hatte ich Männer, die im Winter im T-Shirt herumliefen, für ernsthaft gestört gehalten. Immerhin sahen sie ein bisschen so aus, als wären sie in großer Eile irgendwo ausgebrochen.
Jetzt brachten sie mich ins Grübeln. Vielleicht, dachte ich plötzlich, ist diesen Männern wirklich nicht kalt, oder zumindest empfinden sie Kälte gar nicht als unangenehm. Physik finden sie ja auch nicht zum Davonlaufen, in nach nassem Hund riechenden Zelten fühlen sie sich wohl, und nachts träumen sie von der schüchternen Biologie-Lehramtsstudentin mit der viereckigen lila Brille und in der sich über einem leichten Bauchansatz wölbenden Fließjacke. Fließjacken sind ihre Reizwäsche, das Wacken-Festival ihre Fashion Week. Justin Bieber, der Leuten wie mir das Herz erwärmt, lässt sie kalt. Hardrock, der für mich nach nichts anderem als migräneförderndem Geschepper klingt, erfüllt sie mit butterweicher Wärme. Und fährt ihnen dazu noch eine scharfe Winterbrise über die aufgestellten Unterarmhaare, beginnen die Atome erst richtig zu knistern.
Ich meine das alles nicht ironisch oder abfällig, sondern, im Gegenteil, todernst. Diese Begegnung mit den Jahrgangs-Nerds auf dem Klassentreffen war für mich ein Moment der Erleuchtung. Nicht nur, weil ich plötzlich feststellen musste, dass sie tatsächlich schon immer die wahren „Coolen“ gewesen waren, dass sie schon ihr Ding gemacht hatten, als wir anderen uns noch mit allen Mitteln der Kunst verstellt hatten. Aber auch, weil ich mich auf einmal fragte, ob das Bedürfnis nach Wärme nicht vielleicht auch nur eine Norm ist, genau wie die Idee, dass Mädchen rosa und Jungs blau mögen. Klar, der Körper muss warm bleiben. Hitze ist aber auch nicht gesund. Es gibt Menschen, denen es erst in Wollsocken und Frottee-Schlafanzügen unter Bergen von Federbetten bei 25 Grad Zimmertemperatur gut geht. Und andere, die auch im Winter in nichts als einem Unterhemd unter einer dünnen Sommerdecke schlafen.
Vielleicht, dachte ich, wäre das Leben einfacher und schöner, wenn man die Dinge auch mal aus der Perspektive der Jahrgangs-Nerds betrachten würde. Vielleicht fände man Kälte dann auch mal ganz erfrischend, das Grau des Winters durchaus erheiternd und den Geruch nach nassem Hund gemütlich. Nur eine Überlegung.