Wer verstehen will, wie es den Deutschen geht, muss einen Blick in das Schaufenster einer Buchhandlung werfen. Es heißt ja immer, es werde nicht mehr gelesen, weil die Leute so viel mit dem Internet und ihren Telefonen zu tun hätten. Das ist natürlich eine Katastrophe, auf die der Buchhandel aber keinesfalls mit Schockstarre reagiert. Im Gegenteil: wie mir beim Blick in das Schaufenster des Hamburger Buchladens Heymann am Sonntagabend klar wurde, lassen die Buchhändler keine Chance ungenutzt, die deutschen Nicht-Leserinnen und -Leser bei ihren niedersten Gelüsten und Instinkten abzuholen. Was die Deutschen wollen? Die Buchläden wissen es.
Die Schaufenster-Dekorateure der Buchhandlung Heymann arbeiten mit thematischen Schwerpunkten. Eine der Vitrinen ist dem kramfreien Lebensstil gewidmet. Allein der Anblick beruhigend leerer Holzkisten, die als Podeste für die Bücher dienen, dürfte viele Ausgebrannte anlocken, die schon seit längerem das diffuse Gefühl nicht loswerden, allmählich im Krempel zu versinken – sowohl im Geiste als auch im Keller. Diese Diagnose ist nicht neu, allerdings gibt es neue Erkenntnisse, was ihre Ursachen betrifft: die Flüsse sind voller Plastikmüll, die Straßen voller unzulässiger Abgase. Wie, bitte schön, soll man denn in so einem Land noch Luft bekommen?
Der Bedarf an Ratgebern, die einem bei der häuslichen und mentalen Entrümplung mit gutem Zureden zur Seite stehen, scheint jedenfalls riesig zu sein. Bei Heymann werben sie an vorderster Front mit Titeln wie „Besser aufräumen – Freier leben“ oder „Minimalismus – Der neue Leicht-Sinn“. Ich frage mich: würde der Kauf solcher Bücher die heimische Verkrempelung nicht noch verstärken? Wohl nicht, wenn man dazu „Stille – Ein Wegweiser“ erwirbt. Dieses Werk lehrt, wie man Störgeräusche ausblendet, etwa das Rascheln der Seiten dämlicher Ratgeberbücher.Auch Handschriftliches ist den Deutschen in diesen Tagen wichtig, wohl eine Nachwehe des Handarbeitstrends von 2013. Psychologen haben ja schon immer das Tagebuchschreiben empfohlen. Aber was in ein Tagebuch schreiben, wenn man seine Launen („Mood“) schon auf Instagram verbreitet hat? Stattdessen gibt es jetzt das sogenannte Lettering, ein der Kalligraphie verwandtes Hobby, dem die Verlage zurzeit Massen von Büchern widmen, was die Buchhandlung Heymann wiederum zu vier Quadratmetern Lettering-Schaufenster inspiriert hat – mit Titeln wie „Handlettering Übungsheft“, „DIY im Handlettering-Style“, „Handlettering – Der Quick-Start-Block“, „Handlettering – Das Ausmalbuch“. Ganz schön voll, dieses Fenster, Minimalisten sollten hier nicht reinschauen, da sonst ein Krempelinfarkt droht.
Aber die Deutschen sind eben vielseitig. Die einen wollen gar kein Zeug, die anderen ganz viel davon, zum Beispiel „200 florale Schmuckelemente“. Was beide Lager eint, ist das Bedürfnis nach Flucht, ob in die Leere oder in eine vollkommen zwecklose Beschäftigung, bei der man komplizierte Themen aus Alltag und Gegenwart, etwa Zahnschmerzen, Markus Söder und die Deutsche Bank, wunderbar ausblenden kann. Ob die Lektüre all dieser Lettering-Fibeln eine Grafiker-Ausbildung ersetzt, bleibt zu bezweifeln. Allerdings ist Talent hier eh kein relevanter Faktor. Das belegen die noch ziemlich krakeligen Lettering-Versuche, die sie bei Heymann ins Schaufenster gehängt haben, um mit gutem Vorbild voranzugehen. Naja: Dabei sein ist alles.In Deutschland ist Frühling, und ein Deutscher in Frühlingslaune ist anfällig für Empfehlungen jeglicher Natur. Im Schaufenster mit Gartenschwerpunkt findet man alles, was man zum Ziehen echt-deutscher Tomaten braucht, zum Beispiel die Bücher „Garten Step-by-Step“, „Mein Obstgarten: Wie er mir gefällt“, aber auch „Achtsamkeit beim Gärtnern“ und „Bist du noch zu retten?“, wobei unklar ist, ob sich dieser Titel auf verlauste Rosenhecken oder mich, die Leserin, bezieht. Mein Favorit: der Ratgeber „Naschbalkon für Faule“, ein Buch für Menschen, die eigentlich gar nicht gärtnern wollen und es nur deshalb tun, weil ihr Therapeut ihnen dazu geraten hat. Allerdings sollte man diesen Schmöker nicht auf dem Couchtisch liegen lassen, schließlich gibt es für Deutsche nichts Schlimmeres, als als faul zu gelten.
Obendrein ist Gärtnern ja mittlerweile ein totales Prestigeding, vor allem jetzt, da die Autofirmen in Verruf geraten sind, ein Porsche vor der Tür nur noch dubios aussieht und somit schleunigst ein neues Mittel hermuss, mit dem man seinen Status und seine Liquidität ausstellen kann. Hier kommt die Gartenliteratur ins Spiel, denn: Wer Gartenbücher liest, muss mindestens einen schicken Balkon mit etwas Sonneneinstrahlung, noch wahrscheinlicher aber einen Garten haben. Und natürlich ausreichend Budget für alles, was ein halbwegs ernsthafter Gärtner laut „Garten und Balkon Projekte“ so benötigt: Schubkarre, Spaten, Eimer, Gummistiefel, Gartenschlauch, Gartenschlauchrolle, Zinnkanne, Ungezieferspray, dieses tolle Teil, mit dem man Moos aus Plattenfugen kratzen kann. Wie heißt das noch gleich? Fugenbürste! Zu guter Letzt ist an der Tür des Buchladens Heymann noch ein großes Poster zu bewundern, das für die Lesung des jüngsten Krankes-Amerika-Buch unter den Krankes-Amerika-Büchern wirbt, nämlich „Anderland“ von Ingo Zamperoni. Das ist der Typ aus den Tagesthemen, den auch jenes theaterferne Publikum kennen dürfte, das die Tagesthemen nur dann schaut, wenn es mal wieder zu faul war, den Fernsehapparat nach „Um Himmels willen“ auszuschalten.
Das Poster ist fast so groß wie ein ganzes Schaufenster, und das aus gutem Grund: Im Land der Dichter und Denker möchte man schließlich gerne von Passanten dabei gesehen werden, wie man einen Laden betritt, in dem kluge Bücher über Amerika verkauft und vorgelesen werden. Dabei weiß die Buchhandlung Heymann natürlich, dass die meisten Deutschen weder Dichter noch Denker sind, sondern das Wort „Buchhandel“ eher einschläfernd finden und ihre Freizeit am liebsten damit verbringen, Prominente auf Instagram auszuspähen. Deshalb waren sie bei Heymann so schlau, das charmante Schwiegersohn-Gesicht Zamperonis sechsmal größer als den Titel seines Buches auf das Plakat zu drucken. Mit charmanten Schwiegersöhnen kriegt man sie nämlich alle. Sex sells – das hat auch der deutsche Buchhandel verstanden.
Header-Bild aus „Notting Hill“, alle anderen Bilder: Claire Beermann