Ich halte mich, für wen ich will

EIN PLÄDOYER FÜR MEHR VERKLEIDUNG

Letzte Woche war ich in Paris, es war Modewoche. Vor einer Show sah ich eine sehr auffällig gekleidete Frau: sie trug eine riesige Sonnenbrille mit rosa getönten Gläsern, einen übergroßen Trenchcoat und hochhackige, rote Lacklederstiefel. Eine kleine Streetstyle-Fotografin fragte mit skeptischem Blick, ob die bequem seien. „Oh ja!“, quiekte sie, „total bequem! Nein, wirklich! Sonst würde ich die doch nicht anziehen!“ Es war offensichtlich, dass sich die Frau für dieses Outfit richtig angestrengt hatte. Sie hatte den Trenchcoat lässig drapiert, sodass er ihr halb von der Schulter rutschte. Sie hatte ihre langen Haare halb in den Halsausschnitt ihres Oberteils gestopft, sodass es aussah, als trüge sie einen Bob. Vielleicht hatte sie zuhause geübt, in den Schuhen zu laufen. Aber von all der Sorgfalt und Arbeit, die in ihre Erscheinung geflossen waren, sollte niemand etwas wissen. Sie wollte so wirken, als sei sie in genau diesem Aufzug aus dem Bett gefallen – und nicht, als habe sie sich so herausstaffiert. Als sei sie verkleidet.

Verkleidung ist nämlich die Todsünde. Nur zufällige Eleganz gilt heute als Beleg für wahren Stil. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ein Mitmensch jemanden auf der Straße abfällig als „verkleidet“ bezeichnet hat, weil der oder die im riesigen Pelzmantel oder mit dramatisch großen Sonnenbrillengläsern, im gelben Anzug oder im winzigen Paillettenkleid unterwegs war. „Für wen hält die/der sich“ sagen sie, wenn eine Frau im Cruella-de-vil-Look Bus fährt oder ein Mann im hautengen schwarzen Lederanzug und mit Gelfrisur im Café sitzt.

Was ist eigentlich so falsch daran, sich für jemanden zu halten?

Ich habe mich schon immer gern verkleidet. Als ich klein war, hatten wir zuhause eine riesige Kostümkiste. Ich erinnere mich an Strohhüte, giftgrüne Leggins, strassbesetzte Gürtel, Ohrringe in Muschelform – alles Überbleibsel der achtziger Jahre, aufgehoben von meiner Mutter, die zum Glück nichts wegschmeißt. Natürlich war ich auch Dauergast in ihrem Kleiderschrank und probierte mich dort durch das gesamte Sortiment: Cocktailkleider, Seidentücher, Pumps, BHs.

Kinder verkleiden sich gern, weil ihnen das Kostüm eine Best-Case-Vorschau auf das gibt, was sie einmal werden könnten. Alle finden ein verkleidetes Kind niedlich. Wenn aber eine erwachsene Frau einen theatralischen Auftritt hinlegt, wird die Nase gerümpft. Diese Frau sollte längst wissen, welche Persönlichkeit sie hat. Sie sollte nicht versuchen, jemand anderes zu werden. Sie sollte versuchen, endlich „sie selbst“ zu werden, und sich mit dem zufrieden geben, was sie hat. So sind die Regeln.

Ich bin damit nicht einverstanden. Ich halte Authentizität für ein total albernes Ideal, und eine Lüge obendrein. Und ich bin froh, dass die Modedesigner das im Moment auch so sehen. In den letzten Wochen ging die Tendenz auf den Laufstegen eindeutig Richtung Drama. Gucci zeigte seine neue Sommermode –  gefranste, gerüschte und bestickte Kleider in irisierenden Farben, Strass-Krönchen – schon im letzten Herbst in einem Theater, und der Kampagnenfilm „Showtime“, der kürzlich zur Kollektion veröffentlicht wurde, ist eine Hommage an die Hollywood-Musicals der dreißiger Jahre. Im Januar zeigte Pierpaolo Piccioli für Valentino eine märchenhafte Haute-Couture-Kollektion aus Roben in Bonbonfarben, die jede Saison größer und übertriebener zu werden scheinen. Sein Einfluss war in vielen Kollektionen der darauf folgenden Prêt-à-porter sichtbar: Carolina Herrera und Roksanda hatten ein pinkfarbenes Riesenkleid im Programm, Marc Jacobs und Off/White eins in Kanariengelb, Nina Ricci eins in Korallrot, Y/Project in Cremeweiß.

Valentino Haute Couture Sommer 2019
Carolina Herrera Herbst/Winter 2019
Roksanda Herbst/Winter 2019
Roksanda Herbst/Winter 2019
Marc Jacobs Herbst/Winter 2019
Off-White Herbst/Winter 2019
Y/Project Herbst/Winter 2019
Rochas Herbst/Winter 2019

Die Kollektion von Area sah aus wie aus der Requisite eines Varietéensembles entwendet: Miniröcke in Schleifenform, mit Perlenfransen besetzte Jäckchen und Netzkleider aus glitzerndem Makramee, Stirnbänder aus Strasssteinen. Selbst das sonst so schlichte Label Khaite zeigte ein rotes Samtoberteil mit riesigen Puffärmeln. Bei Missoni gab es Harlekinkragen. Die Kollektion von Jonathan Anderson für Loewe trug den Titel „My best self“ und war von Adligen-Porträts aus dem 17. Jahrhundert inspiriert. Die Show von Koché fand in der Pariser Basketballarena statt, es gab federbesetzte Hüte und ein gerüschtes Top aus Trikotstoff mit bodenlanger Schleppe. Alles Kostüme, alles Kleider, in denen man es sich nicht gemütlich macht, sondern, im Gegenteil, aus der Bequemlichkeit des Ichs, mit dem man jeden Morgen aus dem Bett rollt, ausbricht. Weil man wissen will, was sonst noch geht.

Area Herbst/Winter 2019
Khaite Herbst/Winter 2019
Missoni Herbst/Winter 2019
Loewe Herbst/Winter 2019
Loewe Herbst/Winter 2019
Koché Herbst/Winter 2019

„Was interessante Mode und Theater verbindet“, schrieb Barbara Vinken neulich in einem Essay im SZ Magazin, „ist die Arbeit an der Normierung und Zurichtung der Körper.“ Diese Zurichtung nimmt gelegentlich groteske Formen an, das will ich nicht bestreiten. Früher schnürten Frauen ihre Taillen so eng ein – und gaben damit vor, einen anderen Körper zu haben als den, in dem sie tatsächlich herumliefen – dass es ihnen fast das Rückgrat brach. Heute tuschelt man, dass sich die erfolgreichsten Influencerinnen inzwischen Stylisten leisten, ihren einzigen Job – nämlich inspirierend auszusehen – also heimlich an externe Kräfte outsourcen.

Andererseits: wer oder was ist schon echt? Während der Fashion Week in Paris sage ich ständig zu mittelmäßig schicken Leuten, die ich kaum kenne, wie toll ich ihr Outfit finde, einfach, weil man Smalltalk halten muss. Dabei rede ich Englisch mit amerikanischem Akzent und versuche, eine entspannte Miene zu behalten, während meine Unterhose dahin rutscht, wo sie nicht hinrutschen soll. Das Leben ist immer eine Show, nicht nur in Paris und auch nicht erst, seitdem es Selfies und Instagram gibt. „Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er für sein Leben hält“, hat Max Frisch mal gesagt.

Es ist bedauerlich, dass immer noch so viele Menschen versuchen, sie selbst zu werden, obwohl dieser Versuch doch so aussichtlos ist. Und dass sich obendrein die Botschaft durchgesetzt hat, dass man am ehesten dann man selbst ist, wenn man sich gehen lässt. Also zum Beispiel, wenn man den ganzen Tag faul auf dem Sofa liegend Netflixserien schaut. Oder wenn man in letzter Minute nicht zu der Hochzeit kommt, zu der man seit Monaten eingeladen ist, weil einem nicht danach ist. Oder wenn man jemanden sagt, was man wirklich von ihm hält. Zu alledem sehe ich ständig Memes auf Instagram, Zeilen wie „Sorry I’m late I didn’t want to come“ oder „I’m not shy I just don’t like you“. Solche Beiträge bekommen immer viele Likes, toll, da ist endlich mal jemand er selbst! Diese Denkart erklärt übrigens auch den einstigen Hype um das Modelabel Vetements, das ja vorgab, einfach mal nur Kleidung zu machen. Ganz echt und ohne Theater!

Aber erstens steckt auch hinter der vermeintlichen Unverblümtheit eine Pose. Und zweitens: Ist die Vorstellung nicht traurig, dass man nur dann man selbst sein soll, wenn man sich asozial verhält und schlampig anzieht? Das ist alles, was das „wahre Ich“ zu bieten haben soll? „Verkleidung ist Verfeinerung“, sagte Harald Schmidt mal in einem Interview mit der FAZ. „Ich finde es gerade anstrengend, dass so viele Leute permanent sie selbst sind oder besser: das, was sie glauben zu sein. Anstatt sich mal zu überlegen: Was erfordert der Umgang mit anderen? Das, finde ich, haben die Engländer perfektioniert. Da werden Sie ausgeraubt, aber vorher heißt es: ‚Excuse me!‘“

Warum sagen so viele Menschen „Für wen hält die sich?“, wenn eine theatralisch oder verrückt gekleidete Frau an ihnen vorbeiläuft? Ich glaube, dass hinter dieser Verurteilung tatsächlich Überforderung und Scheu stecken. Denn die Frau in der Drama-Robe macht ja einen Schritt auf die anderen zu. Sie fälscht mit ihrer Verkleidung nichts, im Gegenteil: Sie öffnet sich, sie erzählt eine Geschichte von sich. In der Pressemitteilung zu Guccis jüngster Show, in der es um Maskierung ging, stand: „A certain prejudice has always seen the mask as a concealment tool, something used to fake reality. Something that would make us irremediably inauthentic. But if by authenticity we mean the possibility to stick to the idea we have of ourselves, the mask becomes the means through which we can become what we feel we are.“ Die Verkleidung ist nicht fake, und es ist falsch, sie als Bedrohung zu empfinden. Denn sie transportiert große und echte Gefühle, und ist damit etwas sehr Soziales. In Zeiten des Selfcare-Wahns, da alle so tun, als müssten sie dringend jeden Abend alleine mit ihrem Geist und Körper sein, obwohl sie doch eigentlich nur in Jogginghose fernsehen und mit niemandem diskutieren wollen, halte ich die großen Kostüme, die in diesen Wochen über die Laufstege geschwebt sind, nicht nur für gewagt, sondern für extrem wichtig.

Die Frau in den hohen, roten Stiefeln hätte nicht beteuern sollen, wie bequem ihre Schuhe sind. Sie hätte sagen sollen: Nein, bequem sind sie nicht. Aber ich bin auch nicht hier, um es mir bequem zu machen.

Headerbild: Gucci. Laufstegbilder über Vogue Runway