Die blaue Stunde

WARUM FRÜH AUFSTEHEN DER GRÖSSTE LUXUS DES SOMMERS IST

160614_Claire_by_JuliaZierer-02032Um Berlin herum gibt es wunderschöne Seen. Wenn man wollte, könnte man den ganzen Berliner Sommer am See verbringen. Leider wollen das tatsächlich sehr viele Berliner. Ich liebe Seen, allerdings nur, wenn ich sie fast für mich alleine habe. Das ist in Berlin so gut wie unmöglich. Sobald das Wetter badetauglich ist, werden die verwunschenen Waldgebiete am Wasser zur Irrenanstalt. Enthemmte schleppen dröhnende Lautsprecher ans Ufer. Der Sandboden verschwindet unter einem Meer von Bierflaschen und Chipstüten. Nackte Fleischberge wälzen sich über Liegewiesen. Von meinem ebenfalls eher menschenscheuen Vater habe ich die Regel im Kopf behalten, dass, wer im Sommer am Wasser seine Ruhe haben will, entweder einen nur per Fußmarsch zu erreichenden Strand aufsucht. Oder einfach früher aufsteht als alle anderen.

Also bin ich im letzten Sommer eines Morgens um halb sechs aufgestanden, habe mich in Badeanzug und Laufshorts, den Schlüssel unter der Schuhsohle, in die S-Bahn gesetzt und bin zum Schlachtensee gefahren. Es war erstaunlich einfach, aus dem Bett zu kommen. Ich fühlte mich frisch und energisch und bereit für ein Abenteuer. Durch das offene Fenster wehte eine klare, weiche Brise herein. Der Himmel war hellblau mit einem Stich Violett, und als ich vor die Tür trat, lag auf allem ein federleichter kühler Film, der die Straße wie betäubt erschienen ließ. Am See war ich bis auf ein paar Enten und eine nacktbadende Großmutter allein. Sonnensprenkel tanzten auf dem Waldboden, an der ersten sonnenbeschienenen Bucht sprang ich ins Wasser. Es war herrlich kalt und funkelte wie tausend Kristalle. Mein Körper fühlte sich elastisch an, in Armen und Beinen kribbelte es. Es war einer von diesen Momenten, in denen man ganz bei sich ist, eine von diesen Unternehmungen, die einen komplett aus dem Alltag reißt, eine herrliche Unterbrechung der Routine, ein Kurzurlaub, und alles, was ich dafür hatte tun müssen, war einfach früh aufzustehen.

Warum war ich nicht früher darauf gekommen?

Früh aufzustehen erfordert große Überwindung, was vor allem daran liegt, dass man meistens zu spät ins Bett geht. Außerdem gilt Frühaufstehen als uncool und schrullig. Es wird immer nur die blaue Stunde des Abends gelobt, nie die des Morgens. „Vor Mitternacht ins Bett gehen bedeutet, alt zu sein“, schrieb Joachim Bessing neulich in der ZEIT. „Lebendig hingegen: Wenn die Kinder im Bett sind, schaut man Serien, dann ein bisschen Timeline checken, und plötzlich ist es halb eins. Hat man zu dieser Abendunterhaltung auch noch eine Flasche Wein getrunken, hinterlässt das Ganze am nächsten Morgen ein schales Gefühl.“ Selten tut man abends etwas Sinnvolles. Natürlich gehört Gammeln zum Leben dazu, es ist wichtig, um die Batterien aufzuladen. Aber viel luxuriöser als ein Abend auf dem Sofa mit dem Laptop auf dem Bauch ist ein strahlender Sommermorgen, den man ganz für sich allein hat. Seit zwei Jahren schlafe ich ohne Vorhänge, was wunderbar ist. Nichts versperrt mir die Sicht auf den erwachenden Tag. Ich reiße die Fenster auf und lasse die Luft ins Zimmer strömen. „Kurz vor Sonnenaufgang“, schreibt Bessing, „gibt es ein spezielles, ein blaues Licht, dessen Strahlen Ihre geschlossenen Lider durchdringen. Es ist ein Weckruf der Seele – erhören Sie ihn!“

Als ich in New York wohnte, ging ich oft an den Hudson Piers auf der West Side spazieren. Wenn ich ganz vorne auf dem Ponton stand und über den Fluss zur Skyline von Downtown schaute, mit der Freiheitsstatue als flimmernde Vision im Hintergrund, hatte ich immer das Gefühl, bei etwas Großem, Weltbewegendem live dabei zu sein. Es war ein herrlicher Anflug von Größenwahn, eine Energie, die durch meinen Körper flutete und mir das Gefühl gab, alles könne möglich sein. So ähnlich fühle ich mich, wenn ich an einem Sommermorgen um halb sechs aufstehe. Anders als am Abend, wenn man verklebt und mit geschwollenen Füßen nach Hause kommt, ist der Körper am Morgen leicht und kraftvoll zugleich. Nie bin ich produktiver als jetzt, wenn der Kopf klar ist und mich die Aussicht auf einen neuen Tag, auf eine neue Chance beflügelt. Die ersten Sonnenstrahlen schleichen an der Wand entlang, durch das Fenster höre ich die Vögel ihre Ouvertüre zwitschern. Der Stoff des Kleides liegt glatt und sauber auf der frisch geduschten Haut. Es ist ein Gefühl von innerer Einkehr und großer Erwartung, das mich beschwingt. Ich habe keine Ahnung von Psychologie, aber ich würde behaupten, dass früh aufstehen ein tolles Antidepressivum ist.

Diese Modestrecke haben Julia Zierer und ich morgens um 5 Uhr produziert. Die Straße um die Berliner Siegessäule stand noch im Schatten, aber auf der Spitze des Obelisken wärmte die Goldelse schon ihre Flügel im Sonnenlicht. Passend zu dieser Stimmung habe ich mir die frischesten Klamotten der neuen Prefall-Kollektionen angezogen – die sich, vor allem in Kombination mit meinen geliebten Badeanzügen, alles andere als herbstlich anfühlen. Zu keiner anderen Tageszeit kann man sich bei diesen Temperaturen so schön anziehen wie am frühen Morgen.

Alle Bilder von Julia Zierer

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 Trenchcoat von See by Chloé — ähnlicher hier, Badeanzug von Lenny Niemeyer, Sonnenbrille von Prada, Handtasche von J.W. Anderson — ähnliche hier

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Off-Shoulder-Top von Peter Pilotto, Rock von J.W. Anderson, Pantoletten von Ancient Greek Sandals

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Badeanzug von adidas, Kleid von Emilia Wickstead — ähnliches hier

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Badeanzug von adidas, Rock von Prada, Sonnenbrille von Prada, Handtasche von J.W. Anderson