An meinem 142. Tag in New York stand ich auf der Fifth Avenue vor dem Schaufenster von Tiffany & Co. Ein leuchtend gelbes Taxi fuhr dort, der offene Kofferraum vollgepackt mit lauter türkisfarbenen Päckchen und glitzernden Funkelsteinen. Im Hintergrund die illuminierte New Yorker Winterlandschaft mit blau leuchtender Skyline und Halbmond. Über meinem Kopf spannte sich der echte Dezemberhimmel, makellos und wolkenfrei, reflektiert in den gläsernen Fassaden der Wolkenkratzer ringsum. Dampfendes Sonnenlicht flutete die dichtbefahrene Straße, über dem Asphalt stieg in der Kälte weißer Rauch auf, und in Tiffany’s Schaufenster spiegelte sich ein Fluss gelber Taxen, der hupend die Avenue entlangfloss. Die winterlich verwunschene Szenerie in der Vitrine war die New Yorker Utopie im Miniaturformat: eine Stadt, in der Du alles haben kannst, in der Du nie aufhören brauchst zu träumen, in der Dich die permanente Verheißung und Betörung der Metropole aller Metropolen mit dauerhafter Euphorie erfüllt. Ich stand dort vor dem Schaufenster, auf dieser berühmten Straße, in dieser unglaublichen und unglaublich widersprüchlichen Stadt, und hatte einen Moment der Erleuchtung. Genau das, dachte ich und dabei wurde mir heiß und kalt, ist das Leben, das ich leben will.
Ich habe 4 Monate in New York gewohnt. Keine 24 Stunden nach meiner Ankunft kam es mir vor, als hätte ich nie in einer anderen Stadt gelebt. New York hat mich mit offenen Armen empfangen, hat mich in einer Weise komplettiert und mit einem dauerhaften Glücksgefühl berauscht, wie es Berlin in 2 Jahren nicht geschafft hat. New York ist ein permanenter Höhenflug, nirgends hatte ich häufiger das Gefühl, mit Sprungfedern unter den Füßen herumzulaufen. Und dabei weiß man nie, womit einen diese Stadt als nächstes überrascht. New York ist eine Ansammlung geometrisch angelegter Straßen und trotzdem ein einziges Durcheinander. New York ist ein Ort permanenter Reibungen und Kontraste, und weil hier nie irgendwas so wirklich im Einklang ist, kommt hier auch nie irgendjemand zur Ruhe.
Mitten auf dem Washington Square steht plötzlich ein Flügel, und der Pianist spielt für dich Beethoven. Auf der Lafayette Street sitzen vier Bauarbeiter auf dem Bürgersteig und essen Hotdogs, „Hey gorgeous“ sagen sie, wenn du in Deinen klackernden High Heels vorbeirennst. Die hast du in einem Anflug spontaner Kauflaune gekauft, dabei bist du eigentlich pleite, genau wie alle New Yorker, die allesamt ein bisschen verrückt, chronisch bankrott und definitiv latent selbstzerstörerisch veranlagt sind. An der Straßenecke steht ein Halal Foodcart, es riecht nach gegrillten Lammwürstchen und verbrannter Pretzel. In der U-Bahn siehst du fünf verschiedene Nationalitäten ganz friedlich auf einer Bank sitzen: Mexico, Pakistan, China, Korea, Jamaika.
Wenn du Lärm willst, geh in die Subway-Station am Union Square und schau‘ einem Mann im schwarzen Latexbadeanzug beim Tanzen zu. Oder lass um Mitternacht ein paar Züge an der 1st Avenue sausen und lausche stattdessen lieber dem Violinisten, der auf der Sitzbank steht und mit dem Cellisten auf dem gegenüberliegenden Gleis Vivaldi spielt. Oder stell dich zehn Minuten lang auf die Avenue of the Americas, Ecke 18t Street. Das nächste Hupkonzert kommt bestimmt.
Am See im Central Park aber ist es ganz still, weiße Spielzeugsegelboote dümpeln auf der Wasseroberfläche, am Ufer spielt ein Jazztrio, ein Spaziergänger versucht seinen Hund weiterzuziehen, aber der bleibt hartnäckig vor dem Saxophonspieler sitzen und hört aufmerksam zu. Auf der Madison Avenue spiegelt sich dein schmachtendes Gesicht in den Vitrinen von Proenza Schouler, Lanvin und Chloé, eine feine Dame in Bleistiftrock, Blazer, Leoparden-High-Heels und großem Hut auf graumeliertem Haar marschiert im Stechschritt vorbei und verschwindet in einem herrschaftlichen Townhouse, der Portier hält ihr die Tür auf, er trägt weiße Handschuhe.
Einige Blocks weiter Uptown, in Harlem: fünf junge Frauen laufen schnatternd über die Straße, „Sex and the City“ in real life und in Farbe, sie steuern direkt aufs Cecil zu, wo man Sonntags um 1 Deep dish carribean toast with rum soaked bananas essen und dabei Jazz hören kann. Im Cecil habe ich mich mit der New Yorker Brunchtradition versöhnt; und überhaupt, Harlem! Was für eine herrliche Gegend: Häuserzeilen im viktorianischen Stil, Leelee’s Baked Goods, wo es die besten jüdischen Rugelach der Stadt gibt, zwei alte Herren, die mitten am Tag im schwarzen Anzug mit Fliege vorm Gourmet Deli stehen und Pfeife rauchen, daneben drei Schulmädchen mit frisch geflochtenen Braids.Harlem grenzt ans nördliche Ende des Central Park, am großen Teich kannst du hier den Blick über die Häuserkuppen der Upper West Side und bis nach Midtown schweifen lassen, während um dich herum fitnessverrückte New Yorker für den nächsten Marathon trainieren. Abends gehst du ins Paul’s Baby Grand, Mädchen im Pelzmantel vor der Tür, Harry Styles rennt an dir vorbei und springt in eine schwarze Limousine, drinnen kannst du Drinks für 18 Dollar trinken und auf orangefarbenen Sofas unter Palmenwedeln loungen und wenn du Glück hast, dann läufst du hier vielleicht auch noch Ellen von Unwerth in die Arme.
Auf einer anderen Party während der Fashion Week bin ich mal mit Rihanna zusammengestoßen. „Whoops“, sagte sie und ging weiter. Dann trat ich vor die Tür und fuhr mit der Subway nach Hause, und an der 2nd Avenue stieg ein Mann ein, der einen Mantel trug, der ganz aus Zeitungspapier gemacht war. Jedes Mal, wenn er sich bewegte, segelte ein Papierfetzen zu Boden. „Help the ho-ho-homeless“, sang er und tanzte offensichtlich zugedröhnt durch den Waggon und das war irgendwie lustig und gleichzeitig ziemlich traurig.
Wo so viele unterschiedliche Kräfte aufeinander treffen, entsteht Energie. Genau das macht New York so elektrisierend und gleichzeitig so anstrengend. Der Moment, in dem New York ein Ort der ausgeglichenen Harmonie geworden ist, wird das Ende von New York sein. Die Essenz dieser Stadt ist das Leben im Extrem, die permanente Hatz zum nächsten Höhepunkt, bei gleichzeitiger Angst vor dem drohenden Abstieg in einer Stadt, die keinen Platz hat für Versager. Ist es das, was jedes Jahr Millionen Verrückte und Träumer auf die glitzernde Insel zieht? Die Gier nach dem Leben in seiner schlaflosesten, berauschendsten Form?
In New York hat man ständig das Gefühl, bei etwas ganz Großartigem, Einzigartigem, Menschheitsveränderndem live dabei sein zu dürfen. Dieses Kribbeln, wenn du am Hudson River stehst, die tiefstehende Nachmittagssonne über den spitz in den Himmel ragenden Glastürmen von Downtown, dahinter der weite Fluss, der ins offene Meer mündet, und irgendwo am Horizont, im Licht der sinkenden roten Sonnenkugel die Silhouette der Freiheitsstatue – wie könntest du bei diesem unendlichen Weitblick nicht das Leben nur so aus dir hervorsprudeln fühlen? Manchmal kam ich mir in New York vor wie ein überkochender Suppentopf, brodelnd vor Ideen und Einfällen und Plänen und Illusionen. Wie könnte dir beim Anblick dieser Skyline, gezackt von Dächern, die buchstäblich am Himmel kratzen, und majestätischen Brücken, die hoch über dem Wasser Flussufer verbinden und Menschen transportieren, nicht der Kopf in den Wolken stehen?
In irgendeiner Folge der Serie „Suits“, die in Midtown spielt und von Affären und Skandalen in einer Großkanzlei erzählt, gibt es diese eine Szene, in der Senior Partner Harvey Specter die Grundlage seiner Lebensmotivation erklärt: „Life is this“, sagt er und legt die Hand dabei in gleichbleibend niedrige Horizontallage. „I want this“, und die Hand schnellt fünf Luftetagen höher. Auf diesem Level bewegt sich, wer in New York Tag für Tag versucht, nach den Sternen zu greifen.
Doch wer bei diesem Versuch durchs Raster fällt, der wird überrollt vom unbarmherzigen Wetteifer dieser Stadt. New York glitzert, aber hinter den glitzernden Fassaden und hohen Dächern schlummert so mancher Konflikt. Ausländische Millionäre kaufen mehr und mehr leerstehenden Wohnraum zu utopischen Preisen auf. Die arbeitende Bevölkerung wird dank dramatisch steigender Mieten immer weiter aus dem Stadtgebiet vertrieben, selbst in einstigen Arbeitergegenden in Brooklyn kann man mittlerweile in high-end condominiums logieren, ein Zimmer in Williamsburg kostet heute mehr als eins auf der Upper East Side. Filialen von Dunkin Donuts und Bank of America dominieren mehr und mehr Straßen und verdrängen unabhängige Geschäfte.
Und wo wohnt eigentlich die hübsche Afroamerikanerin, die mir jeden Morgen meinen coffee to go über den Tresen reicht? In der Bronx? In New Jersey? Was macht man überhaupt in New York, wenn man kein Geld hat? Nach vier Monaten in dieser Stadt bin ich trotz Stipendium und elterlicher Unterstützung wahrhaftig pleite. Ich habe in New York jedes Kaugummi mit Kreditkarte gezahlt, habe mitten in der Woche 14-Dollar-Drinks auf gläsernen Dachterrassen getrunken, insgesamt an vielleicht 10 Abenden zuhause gegessen. Sich in New York lebendig fühlen heißt Geld auszugeben. Sehr viel Geld. New York ohne Geld macht keinen Spaß.
Und was sind die USA überhaupt für ein komisches Land? Die Zweifel an den Moralvorstellungen einer Nation, die sich gerne als Weltpolizei begreift und am liebsten auf allen Kontinenten mit ihren Werten missionieren gehen würde, lassen sich gut an den vielen Kommentaren zu meinen ersten Lageberichten ablesen. New York ist toll, und die Menschen hier ungleich freundlicher, positiver und offener als anderswo – keine Frage. Aber was ist mit den USA?
Dieses Land will eine Demokratie sein und hat trotzdem einen Geheimdienst, der jahrelang ohne jegliche Rechtfertigung Menschen gefoltert hat. Es nennt die Freiheit sein höchstes Gut und unterscheidet trotzdem immer noch zwischen Schwarz und Weiß. Es feiert die Gleichheit aller Menschen und bietet trotzdem nur privilegiert geborenen Menschen echte Bildungschancen. Alle anderen dürfen auf eine Public School gehen, von denen längst nicht alle gut sind, und von dort ist der Weg auf eine Ivy-League-Universität ungefähr so wahrscheinlich wie ein Abendessen mit Barack Obama. Und wie gut sind diese unverschämt teuren Hochschulen überhaupt?
Die New York University gehört nicht zur Ivy League, genießt aber trotzdem einen hervorragenden Ruf. Wie war es denn?, werde ich ständig mit großen Augen gefragt. Ich durfte für vier Monate am College of Arts and Science der NYU studieren, ohne 25 000 Dollar tuition zahlen zu müssen. Deshalb ist das hier auch kein Beschwerdebrief, sondern eine rein neutrale Bestandsaufnahme in Stichworten: mein Politik-Professor tauchte im zweiten Teil des Semesters für fünf Wochen ab, dafür übernahmen seine studentischen Hilfskräfte die Vorlesungen, die in einem schlecht belüfteten Kinosaal mit kaputten Klappstühlen stattfanden. In meinem Kunstgeschichts-Seminar wurde nicht diskutiert, sondern nur gelauscht, und das einer Dozentin, die sich am liebsten selbst reden hörte und jeden zweiten Satz von Susan Sontag zu zitieren schien, bloß ohne Anführungszeichen.
Für meinen Stadtplanungskurs sollte ich eine Hausarbeit von fünf Seiten schreiben. An der Berliner Humboldt-Universität darf man einen geschriebenen Text erst Hausarbeit nennen, wenn er mehr als 15 Seiten umfasst. Wie soll man sinnvoll forschen, wenn man nur 1800 Wörter schreiben darf? Die NYU ist eine wirklich schöne Universität, direkt am malerischen Washington Square gelegen, mit tollen Wohnheimen in den besten Gegenden der Stadt, Clubs und Arbeitsgruppen für jedes noch so unsinnige Hobby, und internationalen Studenten aus Japan, Indien, Pakistan, Südafrika. Die Business School soll toll sein, genau wie sämtliche Masterstudiengänge. Zu deren Qualität kann ich nichts sagen, ich war ja nur undergraduate student. Als solcher ist man an einer deutschen Universität, an der jeder Abiturient studieren darf und kann, ohne sich bis ins Rentenalter verschulden zu müssen, meiner Meinung nach besser aufgehoben.
Aber weil die NYU nunmal in New York liegt und nicht in Oklahoma, wurde das Studium schnell zur Nebensache. Für Geld arbeiten macht in dieser Stadt nämlich viel mehr Spaß, vor allem als Journalistin, umgeben von den besten Zeitungs- und Magazinredaktionen, Verlagen, Agenten und Herausgebern, die diese Branche zu bieten hat. Das ist genau das Blatt, für das ich mal schreiben will, habe ich jedes Mal gedacht, wenn ich die neue Ausgabe des New Yorker oder New York Magazine aufschlug. Das ist genau der Schuh, den ich mal tragen will, habe ich fantasiert, als ich bei Bergdorf Goodman im shoe department stand und diese perfekten beerenfarbenen Mules von Malone Souliers bestaunte.
Das ist genau das Leben, das ich leben will, habe ich geträumt, als ich so richtig klischeemäßig bei Tiffany & Co. vorm Schaufenster stand, genau wie Holly Golightly in „Breakfast at Tiffany’s“. Was für eine Aussage – wie materialistisch kann man eigentlich werden nach nur vier Monaten in einer der teuersten Metropolen der Welt? Aber meine Sehnsucht nach der großen Verheißung, diese Fantasie vom großen schönen weiten Leben, das New York dir verspricht, wenn du dich von der positiven Energie und dem schlaflosen Eifer dieser Stadt anstecken lässt, hat nichts mit Shopping und teuren Cocktails zu tun.
Du wirst in New York nie wissen, was der nächste Tag bringt. New York wird dich nachts vor Euphorie und Ideen und Bankrottängsten nicht schlafen lassen, New York wird eine permanente Herausforderung sein, ein dauerhaftes Navigieren zwischen unglaublicher Anstrengung und Reizüberflutung und glückserfüllendem Enthusiasmus. Das ist genau das Leben, das ich leben will – eins ohne den leisesten Anflug von Routine, eins, das mich jeden Tag überrascht und vor neue Rätsel stellt. Wenn nicht in New York, wo sonst könnte man solch ein Leben finden?
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Aussicht aus dem World Trade Center Nr. 4, 54. Stock |
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Carrie Bradshaw gärtnert neuerdings? Townhouse im West Village |
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Fifth Avenue, Ecke 9th Street |
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Blick auf die Upper East Side über den See im Central Park |
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Traumhaus im Greenwich Village |
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Avenue of the Americas: Blick auf den Freedom Tower |
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54th Street in Midtown |
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9/11 Memorial |
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Schiller’s Liquor Bar auf der Lower East Side |
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Im Schiller’s gibt’s auch Oysters… |
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…und Blueberry Pancakes |
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Zöpfeflechten in Flatbush (nachzulesen hier) |
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Feine Gegend: die Bowery |
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Hudson River Park |
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New Yorker Krankheiten: Apple-Sucht und OCD (=Obsessive Coffee Disorder) |
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Hudson River Park |
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„Times Square“ fotografiert von Thomas Struth, ausgestellt im Metropolitan Museum |
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High Line |
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Central Park |
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„So New York“ |
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Warum hat Berlin keine Feuerleitern? |
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Glashäuser in Midtown |
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Schönheit auf Rädern, entdeckt in Tribeca |
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„Suits“-Schauplatz in Midtown |
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Schaufenster bei Tiffany & Co. |
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Christmas at Tiffany’s |
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Brooklyn Bridge und Empire State Building |
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St. Patrick’s Cathedral an der Fifth Avenue/50th Street |
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Rockefeller Center |
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Clairette’s Lieblingsplatz: der Brooklyn Bridge Park mit der besten Sicht auf Downtown Manhattan |