#Paris

IST UNSERE SOLIDARITÄT ZU EINSEITIG?

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Am Samstagmorgen wachte ich um halb 8 auf in der Hoffnung, schlecht geträumt zu haben. Eine Stunde lang lag ich wach und regungslos im Bett. Das änderte nichts an der Lage. Paris war passiert.

Ich schaltete mein Handy ein, um nachzusehen, was es Neues auf Instagram gab. Trauermeldungen und Eiffelturmbilder, #jesuisparis und #prayforparis – der Strom an Solidaritätsbekundungen riss nicht ab. Und dabei machten sich langsam schlechtes Gewissen und Empörung breit. Zwischen die blau-weiß-roten Flaggen mischten sich #prayforlebanon und #jesuisbeirut. Auf Facebook machte ein Post die Runde, der dazu aufrief, nicht für Paris, sondern die ganze Welt zu beten, zu der auch Beirut gehört, wo am Donnerstag bei einem Attentat über 50 Menschen ums Leben kamen und hunderte verletzt wurden. Warum gab es keinen Safety Check für Beirut? Warum konnte man sein Profilbild nicht in den Farben der russischen Flagge einfärben, in Gedenken an die 224 Opfer des Flugzeugabsturzes über dem Sinai?

Wenn im Libanon eine Bombe explodiert, erfahre ich das meistens über meine Familie, die dort lebt – nicht über die Zeitungen, denen noch ein Attentat in der arabischen Welt meistens nicht mehr als eine kleine Meldung wert ist. Die Art und Weise, mit der Katastrophen in unserer westlichen Welt tagelang „gehypt“ werden, während anderswo täglich Menschen Krieg und Terror erleben, ohne dass sich die Weltöffentlichkeit deswegen auch nur einen einzigen Hashtag ausdenken würde, erscheint ungerecht. Irgendwie hat man wohl das Gefühl, dass wir, wenn wir jetzt jeder Tragödie, die auf unserem Planeten geschieht, mit gleicher Bestürzung begegnen würden, wohl kaum noch aus dem Trauerbekunden und Hashtaggen und Profilbildändern herauskämen. Und im Geheimen denkt man ja auch, dass die Terrorgefahr in ohnehin instabilen Ländern wie dem Libanon leider zur Tagesordnung gehört – und deshalb, so schrecklich es klingt, keine größere Aufregung wert ist.

Tödliche Attentate stehen in Beirut nicht an der Tagesordnung, so viel steht fest. Und wenn im Libanon ein terroristischer Anschlag dieser Größenordnung passiert, dann bin ich genauso betroffen wie jetzt nach den Attentaten von Paris. Das hängt aber auch damit zusammen, dass ich als Tochter einer Libanesin ein besonderes Verhältnis zu diesem Land habe – so, wie sich die meisten Europäer und Amerikaner eben in erster Linie mit einem kulturell und geografisch naheliegenden Ort wie Paris verbunden fühlen.

Man muss deswegen kein schlechtes Gewissen haben. Es ist menschlich, sich vor allem anderen um das zu sorgen, was im eigenen Umkreis liegt. In Paris war jeder schon mal, jeder verbindet mit der Stadt und dem Klang ihres Namens all das, was das gute Leben ausmacht: herrschaftliche Architektur, zauberhafte Gärten, romantische Brücken, charmante Cafés, noble Restaurants, Glamour, Kultur, Intellekt, kosmopolitische Eleganz. ZEIT-Autor David Hugendick hat es einmal ganz treffend formuliert: „Im Grunde kann man „Paris“ neben alles schreiben, und sofort klingt es vornehm und seiden und edel: Migräne – Paris. Hauptbahnhof Hannover – Paris. NSA – Paris. Angela Merkel – Paris.“ Paris klang immer nach Schönheit. Bis jetzt.

Unsere Erinnerungen an Paris werden vielleicht nie mehr das sein, was sie einmal waren. So wie der Anblick der New Yorker Skyline für immer auch ein Mahnmal für die Anschläge vom 11. September bleiben wird, werden neben dem Bild von „Paris“ von nun an immer auch die Bilder vom 13. November stehen. Wenn ich an den Libanon denke, ist es für mich genauso – aber eben auch nur deshalb, weil das Land in meinem persönlichen Umkreis liegt. Ich war schon unzählige Male dort, bin durch Straßen gelaufen, in denen später Menschen durch Bomben starben. Ich liebe den Libanon und sein Volk so, als wäre ich selbst dort geboren. Wenn in Beirut eine Bombe fällt, dann bete ich, dass es meinen Angehörigen gut geht. Aber wenn ein russisches Flugzeug über dem Sinai abstürzt, dann finde ich das zwar schrecklich, und käme doch nie auf die Idee, #jesuis7K9268 unter einem Bild der russischen Flagge auf Instagram zu posten.

Ist unsere öffentlich zur Schau gestellte Solidarität zu einseitig? Sind unsere Hashtags und Instagram-Posts „verlogen“, wie ein Bekannter von mir am Freitagabend auf Facebook befand? Sind wir Egoisten, wenn unsere Ängste immer wieder um uns selbst kreisen, unser erster Gedanke bei der Nachricht von solchen Ereignissen uns selbst gilt? Paris ist so nah, habe ich Freitagnacht gedacht, es hätte auch meine Familie oder mich treffen können, es hätte auch hier in Berlin-Mitte passieren können, auf der Terrasse des Restaurants, in dem ich gerade eben zu Abend gegessen habe. Trauern wir unaufrichtig, wenn unsere Trauer nur unserem eigenen Umkreis gilt?

Nein, das tun wir nicht. Denn die Priorisierung unserer Anteilnahme ist so menschlich wie die Trauer und Bestürzung selbst. Jeder und jede Tote und Verletzte wiegt gleich schwer, egal ob in einem arabischen Krisengebiet oder in einer europäischen Metropole. Deshalb ist aber auch jeder Hashtag, jedes Eiffelturmbild, jedes #jesuisparis und verspätete #prayforlebanon, das mit ehrlicher Betroffenheit um die Welt geht, ein Zeichen von länderübergreifender Verbundenheit und Anteilnahme – und damit Gift für den Terrorismus.

Schon klar, Fabian Hart, „dass das Feindbild komplexer ist als ein Hashtag und der Terror nicht mit Kalaschnikows beginnt.“ Aber niemand kann mich dafür beschimpfen, dass ich in einer Welt, die täglich und überall von Gräueltaten erschüttert wird, mit dem Ausdruck meiner Bestürzung überfordert bin. Dass ich vielleicht ausblende, was in Erdteilen geschieht, die weiter weg sind, und mich stattdessen auf die naheliegenden Brennpunkte konzentriere. Und dass ich ein Foto vom Eiffelturm auf Instagram poste, aus Fassungslosigkeit, aus Mitgefühl, auf jeden Fall nicht zum Zwecke der Selbstprofilierung.

Wenn ich am Samstag in Paris gewesen wäre, hätte ich meine unter Schock stehende Cousine, die im 10. Arrondisement wohnt, in den Arm genommen und Blumen und Kerzen vor die Konzerthalle Bataclan gelegt. Ich war nicht in Paris, also habe ich ein Bild auf Instagram gepostet, das Wochenende in bedrückter Trauer verbracht und mich heute Morgen in den Farben Frankreichs mit arabischer Kette am Hals angezogen. Vor dem blau-weiß-rot illuminierten Brandenburger Tor haben sich am Samstag tausende Menschen versammelt. Vielleicht kennen sie niemanden, der bei den Attentaten getötet oder verletzt wurde. Mit den Opfern des Terrorismus verbunden fühlen sie sich trotzdem. Es geht hier nicht um Dabei-sein-ist-alles. Sondern um Zusammenhalt und Hoffnung. Selbst wenn das manchmal etwas plakativ daher kommt.