Das letzte Mal in einer Bar war ich in Mailand. Ich hatte im Februar beruflich in der Stadt zu tun, und eines Abends ging ich nach meinem letzten Termin in die Pasticceria Cucchi, in der man morgens Espresso und ab 17 Uhr einen tollen Negroni bekommt. Ich trank zwei davon, flirtete mit dem Kellner und stopfte mich mit den Oliven und dem Blätterteiggebäck voll, die man in der Pasticceria Cucchi gratis zum Drink dazu bekommt. Hinterher legte ich die zwei Kilometer zu meinem Hotel zu Fuß zurück, hörte dabei laut und schamlos Justin Biebers neues Album und tanzte auf dem Bürgersteig, erfüllt von jenem ganz speziellen Übermut, wie er einen nach dem Besuch einer Bar so oft befällt. Trinken kann man auch zuhause – aber dieses Feeling bekommt man nur an der Theke.
Ach, Bars! Wie sehr sie mir gerade fehlen.
Mir ist das erst neulich klar geworden, als ich eine Liste all jener Dinge schrieb, die ich machen werde, wenn dieser Corona-Mist endlich vorbei ist. Eine schöne Übung, ich habe sie als Teil meiner großen Corona-Dokumentation gemacht, die ich neuerdings für die Nachwelt anfertige (sie beinhaltet neben besagter To-do-Liste eine Auflistung all dessen, das gerade verboten ist, Tagebucheinträge über das Quarantänefeeling und eine Sammlung der schönsten Coronawitze [zum Beispiel]). Eine Erkenntnis des Listenschreibens war, dass diese Pandemie für jemanden wie mich (mit Job, Freund und gut gefülltem Kühlschrank) offenbar sehr gut erträglich ist und ich mich froh und dankbar schätzen darf, dass es mir gerade an nichts Lebensnotwendigem fehlt. Eine andere war, dass ich trotz inständigem Frohunddankbarseins eine unglaubliche Sehnsucht nach Bars habe.
Das Komische ist, dass ich normalerweise gar nicht so viel in Bars gehe. Ich bin nämlich die totale Stubenhockerin. Ich habe überhaupt kein Problem damit, am Samstagabend zuhause zu bleiben. Der Unterschied zur aktuellen Lage ist, dass ich normalerweise theoretisch in eine Bar gehen kann, wenn mich plötzlich doch das Bedürfnis danach packt. Ich muss normalerweise nur die Tür aufmachen und vor mir erstreckt sich ein Meer aus Bars, vor denen Leute mit Bierflaschen herumstehen und in denen Bartender mit kräftigen Oberarmen Cocktails schütteln und an denen Menschen dicht nebeneinander sitzen und sich neugierige Blicke zuwerfen, denn das ist eine Bar: ein Ort voller Verheißung und Geschichten, die noch erzählt werden wollen.
Die Option, jederzeit in diesen Ort eintauchen zu können, war mir wichtig, als ich vor sieben Jahren in diese Straße mitten in Berlin zog. An einem Dienstag kann ich hier um 3 Uhr früh von der U-Bahn nach Hause laufen, ohne mich bedroht zu fühlen. Hier ist immer etwas los – also, normalerweise. Allein auf einem Abschnitt von knapp 100 Metern gibt es: eine schicke Bar mit roten Hockern und Liliensträußen auf dem Tresen, vor der oft nach Parfüm und Gin Tonic duftende Menschentrauben herumstehen; eine Sportkneipe, die auf ihre Menütafeln Sprüche wie „Die heutige gute Laune wird gesponsert von Bier!!“ oder „Der beste Sonnenschutz: in der Kneipe sitzen und Bier trinken!“ schreibt; einen Späti mit Bänken vor der Tür, auf denen immer die Teenager sitzen; eine ranzige Eck-Bar mit Discokugel, in der die Touristen laut „She’s got Bette Davis’ eyes“ grölen, bevor sie über die Straße wanken und in meinen Hauseingang pinkeln.
Für keine Landvilla auf der Welt würde ich meine Wohnung auf dieser Straße hergeben. Ich liebe es, abends an vollen Bars vorbeizulaufen, den Sound des puren Lebens daraus hervorsprudeln zu hören: lautes Geschnatter und Gegacker, Gläserklirren (tolles Geräusch!), darunter der dumpfe, schnelle Beat irgendeines Gute-Laune-Songs, der alle Beteiligten sofort in diese irre Bäumeausreißstimmung versetzt: Was machen wir als nächstes, was trinken wir, ahhh du auch hier, ja mir geht’s total super! Bars machen mich auf eine herrliche Weise total überdreht, und dafür muss ich nicht mal drin sitzen.
Wobei das natürlich am schönsten ist. Meine ersten Barerfahrungen fielen zusammen mit dem Aufkommen eines neuen, aufregenden Zugehörigkeitsgefühls an meiner Schule; nach Jahren eines diffusen Unwohlseins fühlte ich mich unter meinen Mitschülern endlich akzeptiert, ja sogar respektiert für meine komischen Hobbies und meine selbstgenähten Röcke. Außerdem hatte ich endlich eine Clique von Leuten, die ich wirklich mochte, und mit dieser Clique zog ich am Freitagabend durch die Bars von Hamburg-Altona. Wir waren 16 und tranken Caipi für 5 Euro. In der Reh Bar hingen Fotos von Rehen an den Wänden, im Hinterzimmer konnte man Tischfußball spielen, und keiner fragte nach Ausweisen. Im Aurel gab es einen Tisch in einer abgeschirmten Ecke, in der man sich vorkam, als säße man in einem kleinen Wandschrank – ziemlich prickelnd, da dicht an dicht mit den Kumpels zu hocken, die ja immer auch potenzielle Knutschkandidaten waren. Alles war neu und exotisch und erotisch, der Geruch nach klebrigem Alkohol, das leichte, glückselige Schwanken nach dem zweiten Cocktail, gute, coole Musik, dunkle Ecken, Studentenjungs, die sich nach dir umdrehten, Going-Out-Tops. Etwas später fingen wir an, auf die Reeperbahn zu gehen und bis 4 Uhr morgens zu Techno im Baalsaal zu tanzen, aber die Abende, an die ich mit wirklich schmerzlicher Sehnsucht zurückdenke, während hier meine neue Spülmaschine im Hintergrund surrt und ich mich, fast 26, steinalt fühle – das sind die Abende in den Bars. Mag sein, dass ich jetzt romantisiere, aber ich kann mich nicht erinnern, aus einer dieser Bars je deprimiert herausgekommen zu sein. Aus Nachtclubs schon, ja, da konnte einiges schief gehen. Auch von Hausparties, oh Gott, wie oft musste ich da meinem jeweils aktuellen Schwarm beim Knutschen mit der falschen Braut (nämlich: nicht mir) zuschauen, furchtbar! Aber die Bars waren anders. In den Bars machten wir keinen Blödsinn, wir spielten Erwachsensein, und das geht mir bis heute so, ich fühle mich beim Betreten einer Bar immer noch, als würde ich jetzt etwas ungeheuer Erwachsenes und Souveränes tun, etwas, das nur erfolgreiche Großstadtfrauen in High Heels und mit Kreditkarte machen. Von denen ich ja jetzt – hallo, aufwachen! – auch eine bin.
Vor Corona bin ich nach der Arbeit manchmal in die Bar Milano in Mitte gegangen und habe dort einen Negroni getrunken und mit den netten Italienern hinterm Tresen geplaudert. Die Bar Milano ist mein Traum von einer Bar: dunkelgrauer Marmortresen, gedimmte Kugellampen, gerade richtig klein, um eine gemütliche Enge zu erzeugen, gerade richtig schick, dass man vorher ein bisschen Lippenstift aufträgt, voller gutaussehender Leute, die man beglotzen kann, und die Häppchen zum Aperitivo sind gratis. Eine Bar wie in einer amerikanischen Liebeskomödie, schillernd und sexy, aber nicht posh. Poshe Bars mit glatten Lederbänken, in denen sich die Rolexuhren der Gäste in ihren Whiskeygläsern spiegeln, mag ich nicht. Eine Bar muss etwas Mysteriöses an sich haben, sie muss die Fantasie anregen. Wie auch das 67 Orange Street, meine absolute Lieblingsbar, ein Ort, an dem ich jeden zweiten Abend verbringen würde, wenn er sich nicht in New York befände. Das 67 Orange Street ist ein kleiner Raum mit viel dunklem Holz und verspiegelter Kachelwand hinterm Tresen; über den Tischen hängt afroamerikanische Kunst. Zu den Cocktails kann man Soulfood wie Fried Chicken Sliders und gegrillten Rosenkohl bestellen, und es läuft immer der allerbeste Mix aus R&B und Jazz (auf Spotify gibt’s eine Playlist). Der Barmann ist unglaublich cool, durchtrainiert, trägt Anzugweste und Trilby-Hut, kokelt Grapefruitscheiben für seinen Old Fashioned an und hat mal direkt vor meiner Nase einen Dessertdrink für mich erfunden, nachdem ich ihm erklärt hatte, ich hätte Lust auf Schokolade. Er warf eine irre Mischung aus Rum, Hersheys Chocolate Syrup, Milch und noch mindestens drei Zutaten, an die mich nicht erinnern kann, zusammen, und servierte mir den Drink mit einem verführerischen Augenzwinkern. Im Hintergrund lief eine Version des Janet-Jackson-Songs „Escapade“, und plötzlich hatte ich furchtbare Lust, alles hinzuschmeißen und in New York neu anzufangen.
Natürlich ist mir klar, dass das Jetzt-starte-ich-durch-Feeling des Baraufenthalts am Ende oft nur eine Illusion ist – wie einem spätestens am nächsten Morgen klar wird, manchmal aber auch schon, wenn man morgens um halb 3 zuhause ankommt und im grellen Badezimmerlicht feststellen muss, dass man Schokoladensirup im Mundwinkel kleben hat. Aber wahrscheinlich ist es eben diese Illusion, die mir im Moment so fehlt: diese Möglichkeit, im schummrigen Licht, umgeben von Gläserklirren und Lachen und lauter Musik, vor mich hinzuträumen, von einem glamouröseren Ich, einer strahlenderen Welt. Gerade jetzt, ohne Bars, ist ja alles nur Realität.