Keine Aussichten

WAS, WENN WIR AUFHÖREN WÜRDEN, PLÄNE ZU SCHMIEDEN?

Ich sitze im Wintermantel auf dem Balkon und blinzele gegen die Nachmittagssonne. Es riecht nach frischer Erde, und die Äste der Kastanie gegenüber vom Balkon tragen Knospen. Es ist herrlich, und trotzdem bin ich am falschen Ort. Ich sollte gerade an einem Strand in Mexiko sitzen, mit meinen frisch verheirateten Freunden. Das ist natürlich alles ausgefallen – die Reise musste ebenso dran glauben wie die Hochzeit der Freunde. 12 Stunden vor dem geplanten Abflug, am Abend des 13. März, kam ich von der Arbeit nach Hause, fix und fertig von allem. Ich hatte die letzten Tage in einem Wettlauf gegen die Zeit verbracht: gegen die Deadlines, die ich noch schaffen musste, aber auch gegen das Virus – wie lange würde es uns noch aus Deutschland raus- und in Mexiko reinlassen? Ich hatte an diesem Freitagabend, an dem mein Urlaub beginnen sollte, immer noch Emails und einen Text zu schreiben, ich hatte meinen Koffer noch nicht gepackt, noch keine Bücher ausgesucht, noch keine Sonnencreme gekauft. Als mein Freund und ich uns gegen 21 Uhr, nach der Tagesschau, 42 Minuten in der Telefonwarteschleife von British Airways und einem Heulkrampf meinerseits, dazu entschieden, die Reise abzublasen, war ich fast erleichtert. Allein die Vorstellung, in dieser Hektik am nächsten Morgen in ein Flugzeug nach Mexiko zu steigen, umgeben von panischen Menschen mit Masken und unterdrücktem Husten, stresste mich. Und trotzdem fühlte ich mich hintergangen.

Ich hatte seit Wochen auf diesen Urlaub hingearbeitet, mein Leben in Etappen eingeteilt wie ein verzweifelt strampelnder Tour-de-France-Fahrer. Ich hatte wie eine Irre To-Do-Listen abgehakt und dafür Verabredungen mit Freunden und Telefonate mit Großeltern vertagt, ich hatte einen Terminmarathon in Mailand absolviert, ohne etwas von Mailand zu sehen, ich war in nicht enden wollendem Regen vier Tage lang durch Paris gehetzt, ohne mich über Paris und diesen tollen Job, der mich nach Paris gebracht hatte, freuen zu können. Ich hatte mich an Sonntagen durch lange Texte gekämpft, Absatz für Absatz, ich hatte mit pochenden Kopfschmerzen in Flugzeugen gesessen, immer wieder in diesen verdammten Flugzeugen, und ich schäme mich wirklich, es laut zu sagen, aber ich wollte das alles nur irgendwie hinter mich bringen.

Und dann, als ich es fast geschafft hatte, löste sich die erhoffte Erlösung plötzlich in Luft auf wie eine Fata Morgana. BETRUG! wollte ich schreien, als ich mich an jenem Morgen, an dem wir hätten fliegen sollen, in meinem Bett wiederfand,

BETRUUUUG!!!

Ich fühlte mich wie damals, als ich herausfand, dass die Zahlungsbestätigung des freundlichen eBay-Kunden, dem ich voller Triumph meinen alten Laptop verkauft und zugeschickt hatte, eine Fälschung war und ich nie auch nur einen Cent der Verkaufssumme erhalten würde: wütend, hilflos, und irgendwie ein bisschen dumm. Wie hatte ich nur glauben können, dass der perfekt organisierte Augen-zu-und-durch-Marsch der vergangenen Wochen eine gute Idee war? Draußen vor dem Schlafzimmerfenster leuchtete ein knallblauer Himmel. Es war ein wunderschöner Tag, ein Tag wie ein Versöhnungsangebot.

Wir verbrachten den Morgen bedächtig, mein Freund legte die Beatles auf, ich saß im Bademantel auf dem Wohnzimmerteppich, hielt meine nackten Beine ins warme Sonnenlicht und aß einen Marmeladentoast. Dann kaufte ich Blumen und wir machten eine Fahrradtour und irgendwann, auf halber Strecke durch den Tiergarten, hielt ich spontan an, warf mein Fahrrad ins Gras und legte mich auf eine sonnenbeschienene Wiese, die überraschend trocken und warm war. Hätte nicht zwischendurch das Flugticket nach Mexiko City auf meinem Handybildschirm aufgeleuchtet, es wäre der perfekte Tag gewesen.

Korrigiere: Es war der perfekte Tag.

Wenn es irgendeine Lektion gibt, die man aus dieser verdammten Pandemie ziehen kann, dann diese: Die ganze Planerei, auf die wir alle so konditioniert sind, das monatelange Vorbereiten von Jahresurlauben und Jahrhundertfesten und Ereignissen wie „dem schönsten Tag im Leben“ (eine Bezeichnung, die das Verderben ja schon in sich trägt) –  es hat einfach keinen Sinn. Natürlich sind solche Begebenheiten wichtig und besonders. Aber jeder Tag hat doch das Zeug dazu, der schönste im Leben zu werden. Pech kann man nicht planen, Glück aber auch nicht. Also lasst es am besten gleich – und das sage ich als jemand, die ständig irgendetwas plant, die im Planen ein Gefühl von Kontrolle sucht. Aber hier sitze ich nun zuhause, unwissend, wann ich das nächste Mal das Meer oder meine Großeltern oder ein Restaurant von innen sehen werde, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit dem zufrieden zu geben, was gerade unmittelbar vor mir liegt, das nächste Mittagessen, der nächste Einkauf, überhaupt, was sind das jetzt für himmlische Freuden: in den Supermarkt zu gehen! Auf dem Wohnzimmerteppich in der Sonne zu liegen! Zu Britney Spears in der Badewanne zu singen! Abends im frisch bezogenen Bett die Sopranos zu gucken! Sich verliebt tief in die Augen zu schauen! Unsere Freunde, die ihre große Hochzeit absagen mussten, haben letzte Woche in winziger Besetzung standesamtlich geheiratet – mit nur je einem Trauzeugen, ohne Familien, danach gingen alle zurück in ihre Heim-Quarantäne. Als ich die Fotos der Trauung sah, musste ich fast weinen. Es muss eine bewegende Zeremonie gewesen sein, ganz konzentriert auf das, was von Anfang an gezählt hatte und was bei der perfekt geplanten 150-Leute-Party, die abgesagt werden musste, vielleicht untergegangen wäre. „Liebe kann man nicht canceln“, sagte die Braut hinterher, ein guter Satz, den wir uns alle auf die Unterhosen sticken sollten.

Vor ein paar Wochen, als das Virus noch kein Thema war, unterhielt ich mich mit einer Freundin aus Uni-Zeiten darüber, wie lange wir uns nach unserer Ankunft in Berlin im Jahr 2012 noch in einer Phase des Übergangs gefühlt hatten. Wie schwerelos wir uns meinten in diesem Glauben, das alles zähle ja noch gar nicht, das wahre Leben würde erst noch beginnen, wir würden erst noch zehnmal umziehen und zwanzig Mal neu anfangen, bevor es richtig losginge. Und wie wir, während wir all diese großen Pläne für später schmiedeten, gar nicht bemerkt hatten, dass das wahre Leben längst im vollen Gange war.