Das Jahr, in dem ich den Tod verstand

UND WAS ICH DARAUS ÜBER‘S LEBEN LERNTE

      In diesem Jahr habe ich den Tod kennengelernt. Im August besuchte ich meine kranke Großmutter im Pflegeheim. Nur wenige Wochen zuvor hatten wir mit ihr im Garten gesessen und herumgealbert – das konnte man sehr gut mit ihr, als ehemalige Karnevalskönigin war sie für jeden Spaß zu haben. Einen Großteil ihres Lebensabends hatte sie damit verbracht, unserem Hund das Springen durch einen Reifen beizubringen (vergeblich, aber sie verlor nicht die Freude an diesem Projekt). Naja – jetzt war August, der Lungenkrebs hatte sich durch ihren Körper gefressen, und ich saß an ihrem Bett und weinte, denn sie wollte einfach nicht aus ihrem Mittagsschläfchen erwachen.

Eine Woche später war sie tot. Ich war gerade am Berliner Flughafen gelandet, als ich die Nachricht auf meinem Handy sah: „Tati ist eingeschlafen… für immer.“ Ich fing noch im Flugzeug an zu weinen. Das erschien mir irgendwie richtig, und gleichzeitig fühlte es sich total falsch an: Ich hatte das Gefühl, eine Rolle zu spielen, ganz so, als würde ich in einem typisch deutschen TV-Drama mitwirken, und im Drehbuch würde stehen: Claire erfährt vom Tod ihrer Großmutter, bricht in Tränen aus, versucht sie zurückzuhalten, zittert, usw. Es kam mir so vor, als würde ich nur deshalb weinen, weil ich tausendmal im Fernsehen gesehen hatte, dass man das so tut, wenn jemand stirbt. Aber was macht man eigentlich wirklich, wenn jemand stirbt? Ich hatte keine Ahnung.

Ich fuhr vom Flughafen zum Büro und spielte auch dort die brav Trauernde, aber niemand stellte Fragen. Tatsächlich fühlte ich mich nicht traurig, sondern leer. Und sehr, sehr müde. Irgendwann bekam ich Kopfschmerzen und ging nach Hause. Am nächsten Abend ging ich mit zwei Freunden ins Restaurant. Dort lief schreckliche Musik, und am Nebentisch saß ein sturzbetrunkener Mann mit Hinkefuß, der mich die ganze Zeit durchdringend anstarrte, und der eine meiner zwei Freunde hörte nicht auf, über die Frau zu jammern, die ihn gerade abserviert hatte, und plötzlich wurde mir richtig schlecht. Ich fand es geradezu obszön, mich in diesem Umfeld aufzuhalten und mit diesen banalen Dingen zu beschäftigen, wo doch gerade meine Großmutter gestorben war. Irgendwie schien aber auch keiner so richtig zu verstehen, dass ich wirklich trauerte. Eine Freundin, die Bescheid wusste, rief mich nicht mal an. Mein Freund bemitleidete mich, war aber selbst irre gut drauf. Mein Kumpel redete weiter nur von sich. Und wer weiß: Vielleicht hätte ich an all ihrer Stelle auch so reagiert. Wenn mir Leute in der Vergangenheit erzählt hatten, dass ihre Großmutter oder ihr Großvater gestorben war, war ich nie übertrieben mitfühlend. Ich dachte immer: Großeltern sterben halt irgendwann, weil sie alt sind. Das gehört so, die haben ihr Leben gelebt.

Ein paar Tage später dann brach es plötzlich richtig über mich herein. Mein Freund und ich saßen unterm spätsommerlichen Sternenhimmel auf dem Balkon und sprachen darüber, wann Tatis Sterben angefangen hatte, wann klar wurde, dass es nicht mehr lange dauern würde. Erst meinten wir uns zu erinnern, dass es ganz schnell ging, eine Sache von wenigen Wochen war. Aber dann fiel meinem Freund ein: An Ostern kam sie beim Spazierengehen schon nicht mehr weit. Wir sind ihr doch entgegen gegangen, erinnerte er mich, weißt du noch? Und da sah ich sie plötzlich ganz deutlich vor mir, wie sie in der Menge der fröhlichen Osterspaziergänger aufgetaucht war und dabei irgendwie so unglücklich ausgesehen hatte, und in diesem Moment, als mir diese Erinnerung in den Kopf fuhr, wurde mir klar, dass sie für immer weg war.

Bald schon würde jemand anderes in der Wohnung meiner Großmutter wohnen. Und irgendwann würde auch das Haus meiner anderen Großeltern anderen Leuten gehören. Nicht nur die Menschen, die ich liebte, würden nach und nach verschwinden. Auch alles, was ich mein ganzes Leben lang mit ihnen verbunden hatte, würde dann beendet sein. Natürlich würde ich mich noch daran erinnern und darüber schreiben und Fotos davon anschauen und versuchen, es irgendwie festzuhalten. Aber es würde abgeschlossen sein. Die letzte Seite gelesen, das Buch zugeklappt. Ich würde Tati nie wieder in ihrer beigen Daunenjacke in einer Menschenmenge an der Alster erspähen, auf mich wartend, mit etwas panischem, dann erleichtertem Blick. Sie würde nie wieder neben mir herlaufen und mir erzählen, welche Tiersendung sie im Fernsehen gesehen hatte, um mich dann zum viertausendsten Mal zu fragen, warum ich denn gar keinen Fernseher habe??? Sie würde mich nie wieder ganz fest umarmen und fragen: „Wann kommst du wieder nach Hamburg?“ Sie würde nie wieder viel zu früh kommen. Sie würde nie wieder in die Küche meiner Eltern platzen, ihre Handtasche mitten auf den Esstisch stellen und einen aus der BILD-Zeitung ausgeschnittenen Zeitungsartikel über eine Eisbärdame, die Drillinge bekommen hat, daraus hervorkramen. Sie würde nie wieder durch die Küche wuseln und helfen, irgendetwas vorzubereiten oder nach den Anweisungen meiner Mutter auf 20 Tellern anzurichten. Sie würde nie mehr diese ganzen Dinge tun, die mir immer ganz normal und alltäglich vorgekommen waren, und die jetzt plötzlich so kostbar schienen wie flüssiges Gold, das einem unaufhaltsam durch die Finger rinnt. Dieser Gedanke überwältigte mich. Vielleicht, dachte ich in diesem Moment, ist das die heftigste Erkenntnis des Erwachsenwerdens ist: Dass einem irgendwann nichts anderes übrig bleibt, als damit anzufangen, seine eigenen Orte und Dinge für zukünftige Erinnerungen zu schaffen, die Seiten dieses nächsten Buchs selbst zu füllen.

Die Wochen vergingen. Kurz nach dem Tod meiner Großmutter starben wenige Meter von meiner Wohnung entfernt vier Menschen bei einem Autounfall. Ein Familienmitglied wurde sehr krank. Eines Sonntagmorgens bekam ich einen Anruf und wurde über eine Notoperation informiert, die am Abend vorher gerade noch rechtzeitig stattgefunden hatte. Der Tod war plötzlich ständig in meinen Gedanken, aber meine Gefühle kamen nicht hinterher. Ich war verwirrt. Und noch immer gibt es Momente, in denen ich denke, dass meine Großmutter nur verreist ist. Oder dass ich sie schon länger nicht mehr gesehen habe und jetzt mal bald anrufen sollte. Dann sehe ich sie vor mir in ihrer kleinen Wohnung mit dem beigen Teppich und dem winzigen Bad, in dem alles ganz ordentlich und an seinem Platz ist, wo es hellrosa Handtücher gibt und oben über der Dusche ein kleines Fenster zur Küche. Ich sehe ihren großen Kleiderschrank mit den verspiegelten Schiebetüren, die ich als kleines Kind so gerne auf- und zugeschoben habe, und ich weiß ganz genau, wie es in ihrem Schlafzimmer riecht. In der Kommode in ihrem Wohnzimmer steht eine Matrjoschka, die man in lauter kleine Puppen zerlegen kann. Auf der Kommode liegt libanesisches Konfekt, in Cellophanpapier verpackt, in einer silbernen Schale. Neben dem Klappsofa liegt eine Hörzu. Meine Großmutter wurschtelt in der Küche, kocht Früchtetee, über der Spüle hängen die alten Kinderzeichnungen ihrer Enkelinnen. Überall stehen Fotos, Babyfotos von uns Enkelinnen, Fotos von ihren Kindern, ein verblichenes Foto von ihr selbst aus dem Jahr 1959, natürlich Fotos von unserem Hund, der nie durch einen Reifen springen wollte. Jetzt setzt sich meine Großmutter in ihren rot-geblümten Sessel, die langen, dünnen Beine leicht von sich gestreckt wie ein Mädchen, das auf einem etwas zu hohen Stuhl sitzt. Ich sehe ihr schelmisches Gesicht vor mir, ihre verschmitzten Augen, ich sehe sie plötzlich so lebendig, so echt, als stünde sie vor mir. Dann dauert es noch mal zwei Sekunden, und dann fällt mir siedend heiß wieder ein, dass sie tot ist, und jedes Mal, wenn ich diesen Irrtum wieder erleben muss, zieht sich in meinem Bauch etwas schmerzhaft zusammen.

Meine Großmutter im Jahr 1982

Von 100 Menschen sterben 100. Das ganze Leben ist auf den Tod ausgerichtet: Wir versuchen, ihm einen Sinn zu geben, es zu genießen, etwas darin zu erschaffen, weil wir genau wissen, dass unsere Zeit und die Zeit unserer Mitmenschen endlich ist. Warum kann man sich trotzdem nicht auf den Tod vorbereiten? Ich habe mir fast das ganze letzte Jahr über versucht vorzustellen, wie es sein würde, wenn Tati tot ist. Ich habe im Geiste geradezu dafür geübt: für den Moment, wenn ich es erfahre, die Stunden danach, das Weinen, dann das schrittweise, aber stetige Überkommen des Verlusts, das Abebben der Trauer. Aber als es dann soweit war, musste ich feststellen, dass Trauer nicht abebbt. Ich habe eher das Gefühl, dass sie in Wellen immer wieder kommt, manchmal sogar in viel größeren als zum eigentlichen Zeitpunkt des Verlusts: Wellen, die über einen hinweg schwappen, wenn man es gerade gar nicht erwartet.

Aber dann gab es da noch diesen Moment, in dem ich verstand, dass man sich auf den Tod zwar nicht vorbereiten kann, dass der Tod aber auch nicht böse ist. Das war an dem Tag im August, an dem ich meine Großmutter im Pflegeheim besuchte. Es war ein schönes Heim mit großem Garten und bunten Blumenbeeten. Auf den Fluren roch es genauso wie vor 15 Jahren, als ich mein Sozialpraktikum dort machte: süßlich, nach Rosenseife und altem Kuchen. Damals gruselte mich dieser Ort. Heute fand ich ihn wunderschön.

Meine Großmutter lag in ihrem Zimmer in einem großen Bett unter einer cremefarbenen Decke, den Kopf zur Seite geneigt, und schnarchte. Zwischendurch machte sie träge die Augen auf, aber sie schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen.
In der Ecke des Zimmers stand ein Fernseher. Er war aus. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich mit Tati und einem ausgeschalteten Fernseher im selben Raum war. Aber Tati war auch gar nicht mehr im Zimmer. Die Tati, die ich kenne, ist immer geschminkt und frisiert. Sie liest die Zeitung. Im Hintergrund läuft der Fernseher. Sie wuselt mit ihren langen Storchenbeinen herum, redet laut, jammert, schwärmt von einer Tiersendung, die sie gesehen hat, und fragt mich zum viertausendsten Mal, wie ich bitteschön ohne Fernseher leben kann.

Der Mensch, der in diesem Bett lag und unbekümmert schnarchte, das war nicht Tati. Das war nur noch ein Körper, der eine feuchte Stirn hatte und nicht sehr schön roch. Tati hatte immer gut gerochen. Tati war eine schöne Frau. Sie konnte eigentlich alles, was irgendwo abgefallen war, wieder annähen, sie konnte Pudding kochen und Unmengen von Spargel und Kartoffeln schälen und sie musste immer mindestens zwei Brötchen im Haus haben, eins fürs Abendbrot und eins fürs Frühstück. Sie klagte ständig, dass sie das nächste Weihnachten ganz bestimmt nicht mehr erleben würde, und dann ging sie nach draußen in den Garten, um den Hund endlich dazu zu bringen, durch den Reifen zu springen.

In ihrem Zimmer im Heim tönte leise, dudelige Popmusik aus dem Radio. Irgendwann machte ich das Radio aus und dann machte ich es wieder an und suchte den Kultursender. Durch die Gardinen fiel Sonnenlicht vom Balkon herein, und man hörte entferntes Kindergeschrei von der Schule auf dem angrenzenden Grundstück, meiner alten Grundschule. Im Radio lief jetzt der 1. Satz eines Harfenkonzerts. Es war sehr friedlich in Tatis Zimmer.

Sie trug ein Nachthemd mit lila Streublümchen und kleinen lila Schleifen. Diese Blümchen und Schleifen – sie haben mich völlig fertig gemacht. Tati hatte dieses Nachthemd gekauft, als sie noch gesund und munter war. Sie hatte es wahrscheinlich ausgesucht, weil sie es hübsch fand. Sie hatte Dinge ausgesucht, sie hatte Dinge hübsch gefunden, sie war am Leben gewesen. Ich fand dieses Nachthemd liebevoll und ehrlich. Es erinnerte mich an Tati.

Ich sah mich in ihrem im Zimmer um und überlegte, wo der Tod wartete. Weil, das wusste ich in diesem Moment: Er war schon im Zimmer. Vielleicht war er das Sonnenlicht, das durch die Gardinen ins Zimmer fiel. Oder der Rosenstrauß, der auf dem Tisch stand, neben dem Teller mit dem unberührten Stück Obstkuchen.
Und dann habe ich gedacht: Der Tod ist zwar schon da, aber irgendwie ist er gar nicht so fies, wie ich immer geglaubt habe. Der Tod wartet friedlich und still, bis man ihn ruft. Dann kommt er und erledigt leise seine Arbeit. Ich hatte, als ich in Tatis Zimmer stand, plötzlich keine Angst mehr vor ihm.