Neulich habe ich mal wieder aus Spaß mein Abiball-Kleid anprobiert, das tue ich gelegentlich in Zuständen seelischer Instabilität (oder Langeweile): auf die wohltuende Wirkung stahlblauer Acne-Seide ist in Tiefpunktsituationen einfach immer Verlass. Auf der Stelle fühlt man sich mindestens so glamourös, unbesiegbar und unwiderstehlich schön wie Aphrodite, Schneewittchen und Naomi Campbell zusammen. Vor dem Spiegel musste ich bei jener Kleidertherapie allerdings, emotional zwischen Schock und Erleichterung oszillierend, feststellen, dass ich seit der letzten Anprobe im September 2012 schaurigerweise aus dem guten Stück herausgewachsen bin. Ernsthaft! So was kann einem auch mit fast 20 Jahren noch passieren. Für Erleichterung sorgte der Umstand, dass ich tatsächlich nicht breiter, sondern bloß länger geworden bin. Schockierend war hingegen die Feststellung, dass mir das Kleid dank meiner aktuellen Körpergröße vorn gerade mal bis zur oberen Leistengegend reicht. Bei einer neuen Gesamtlänge von 1,74 Meter kann ich zwar nun ENDLICH meinen geheimen Karrierewunsch angehen und Germany’s Next Topmodel werden. Aber was mache ich mit dem Kleid?
Glücklicherweise leben wir ja in Zeiten grenzenloser modischer Freiheit, Trends gibt es eigentlich gar nicht mehr, sämtliche Kleiderregeln wollen gebrochen werden, man kann in Turnschuhen Umweltminister werden, Fliegerjacken zu Abendroben tragen, mit oder ohne oder nur mit BH herumlaufen und Kirschen als Kopfschmuck ausführen. Solange man nicht bei der Sparkasse oder im Hotel Adlon arbeitet, ist erlaubt, was gefällt, zumindest hier bei uns im demokratischen Deutschland. Bei der Frage nach alternativen Einsatzgebieten diverser Kleidungsstücke eröffnet dieser Umstand immer wieder neuartige Verwendungsmöglichkeiten. Ein maskulines Herrenhemd lässt sich bei Bedarf in eine mädchenhafte Carmenbluse verwandeln, in Badelatschen kann man neuerdings auch außerhalb der Schwimmhalle herumspazieren und ist man aus seinem heißgeliebten Abiballkleid herausgewachsen, macht man einfach ein dramatisch flatterndes Oberteil daraus.
„Schließt sich eine Tür, öffnet sich irgendwo ein Fenster“ lautet schließlich auch meine Lieblingslebensweisheit. Das bedeutet in diesem Fall, dass mir meine Acne-Robe zwar neuerdings nur noch bis zur Unterhose reicht, ich dafür aber seit Kurzem glückliche Besitzerin einer Fetzenjeans von Citizens of Humanity bin, die sich ihrerseits, solange der Stilbruch noch Hochkonjunktur hat, mit besagtem Ballkleid ganz hervorragend verträgt. Die Hose-Rock-Kombi ist nebenbei bemerkt ein weiteres Kind unseres barrierefreien Modejahrhunderts, erstmals wieder salonfähig gemacht dank Acne’s Resortkollektion aus dem Jahr 2012 – auch historisch betrachtet macht es also durchaus Sinn, dass mein Abendkleid desselben Herstellers seine modische Wiedergeburt als Kompagnon gelöcherter Jeanshosen erlebt. In diesem Outfit vereinen sich unterschiedlichste Kleiderlaunen: in der Hose fühle ich mich wild wie ein Cowboy, in der Seidenrobe erhaben wie eine griechische Gottheit. Was bei solch einer Fusion wohl herauskommt? Ein griechischer Cowboy? Aphrodite auf’m Pferd? Auf jeden Fall etwas sehr Freigeistiges.