Musikrubrik #30: Sunny Levine

FRÜHLINGSGEFÜHLE AUF KNOPFDRUCK

In der 6. Klasse ging ich zum ersten Mal ganz clubmäßig tanzen, und zwar während der Klassenreise im Sommer auf Sylt. Am letzten Abend gab es die obligatorische Abschiedssause, die in der 5. Klasse noch „bunter Abend“ und ein Jahr später schon „Disko“ hieß, und wie wir 12-Jährigen in einem Jugendherbergsspeisesaal zu Linkin Park feat. Jay-Z tanzten, kamen wir uns doch ziemlich erwachsen vor. Ich amüsierte mich prächtig. Bis heute muss ich nur die ersten Töne von „Numb/Encore“ hören und schon fühle ich mich wieder wie 12, unterm Sylter Jugendherbergsspeisesaalhimmel hüpfend und laut mit Jay-Z im Duett singend. Am selben Abend wurde ich auch von den Betreuern aus der 9. Klasse dazu gezwungen, mit meinem heimlichen Schwarm L. zu Robbie Williams‘ „Sexed Up“ zu tanzen. Acht Jahre später muss nur einer irgendwo „Sexed Up“ anstimmen und schon muss ich an L. denken, den ich heute total langweilig finde, aber trotzdem, die Erinnerung ist geblieben.

Interessant, was Musik mit unserem Gedächtnis anstellt. Für jede Situation, jede Erinnerung, jede Gefühlsregung gibt es das passende Lied. Manchmal stehe ich mit Kopfhörern in der U-Bahn, fühle mich ganz frisch und normal, und plötzlich kommt „After the Rain“ von Ottmar Liebert, das ich zuletzt auf einer Beiruter Dachterrasse gehört habe. Auf einmal ist die U-Bahn ganz weit weg, die Luft heiß und staubig, das Licht golden, es riecht nach Meer, Minze und Jasmin, und ich will auf der Stelle ein Hummus-Sandwich bestellen. Wenn man mir eine Pistole an den Kopf halten und sagen würde, du musst dich entscheiden, Musik oder Kunst! würde ich wahrscheinlich doch Musik sagen. Musik ist Stimmung, Atmosphäre, Melancholie, Euphorie, Urlaub und Exotik auf Knopfdruck.

Die letzten Wochen, ungewöhnlich sommerlich für März-April, habe ich nun mit musikalischer Unterhaltung von Sunny Levine verbracht, und weil mein emotionales Gedächtnis die fabelhaften Sommersounds dieses selbstverständlich in Kalifornien wohnhaften Musikers natürlich gleich unter dem Stichwort Berliner Frühling abgespeichert hat, muss ich künftig nur „Wouldn’t it be wild“ oder „Can’t Tune You Out“ einschalten und schon ist da dieses einzigartige Gefühl vom ersten Sonnenbad im Tiergarten, mit viel Zitronensorbet und rosa Kirschblüten, die durch die Lüfte fliegen. Soll der Winter doch irgendwann wieder kommen! Frühlingsgefühle kann man zwar nicht in Marmeladengläser sperren, dafür aber auf dem iPod speichern.