Oben hui, unten Adilette

WEIL DIE MODEWELT VON HEUTE EIN RECHTSFREIER RAUM IST


Im letzten Outfit-Artikel präsentierte ich mich in einem weißen Herrenhemd mit schwarzer Krawatte und schwarz-weißen Schnallenschuhen, zu denen auch Al Pacino nicht nein gesagt hätte. In der Kommentarleiste fand ich dazu den so höflichen wie überraschenden Beitrag einer anonymen Leserin, die sich über den Umstand beschwerte, dass neuerdings alle Berliner in Badelatschen herumlaufen.

„Berlin sieht so gleich aus: Bomberjacken, Rucksäcke, Wood Wood Schlabberzeug, alte Jeanswesten, alte Mom-Jeans bis zur Brust hochgezogen, alle tragen Nike, alle laufen für Nike, alle trainieren bei proteinfressenden muskelverkürzten Bodybuildern und mögen’s am liebsten ‚lässig‘.“

Über solche Kommentare freue ich mich wie ein kleines Kind an Weihnachten. Wegen solcher Kommentare schreibe ich überhaupt ein Blog! Mit seinen geschätzten Lesern auf diese Weise in Kontakt treten zu dürfen ist für den schreibenden Menschen, der tagein tagaus allein in seinem Kämmerlein hockt, wie das Pausenbrot nach dem Matheunterricht: eine willkommene Erfrischung.

Zurück zum Geschehen: im ersten Moment war ich doch etwas verwirrt, unter einem Foto, auf dem ich Al-Pacino-Schuhe trug, eine Klage über die Berliner Lumpigkeit zu finden. Hatte ich nicht gerade das Gegenteil bewiesen? Dann fiel es mir siedend heiß wieder ein: im Text hatte ich erwähnt, neulich in Adiletten am Gendarmenmarkt unterwegs gewesen zu sein. Ertappt!

Ich gebe zu: wenn ich nicht gerade noble Loafer trage, sind Adiletten meine liebsten Sommersandalen. Ich trage sie schrecklich gern. Oft schlüpfe ich morgens nur schnell hinein, um eine Zeitung kaufen zu gehen, und bleibe dann den ganzen Tag in den Schuhen hängen, während drumherum das Outfit vom Tages- in den Nachtmodus wechselt. Ich trage meine Adiletten zu Shorts wie zur Seidenrobe. In Berlin stehe ich damit nicht alleine da, wobei die Birkenstock-Latsche, von der ich kein Exemplar besitze, noch beliebter ist; zudem sei darauf hingewiesen, dass wir hier bei C’est Clairette den Trend zum Plattschuh schon vor einem Jahr prophezeit haben. Aber das nur am Rande. Seit dieser Saison ist die Badelatsche zumindest in Berliner Breiten wieder vollends sozialisiert, und unsere anonyme Kommentatorin hat dazu die berechtigte Frage gestellt: wieso gerade jetzt, wieso alle auf einmal, wieso denn immer lässig – „ist es die Angst alleine dazustehen? Auch in den Magazinen, der Kunst, den Stores sieht man gleiches. Alles muss genderfreundlich sein, liberal, frei, dabei wirkt das doch alles sehr verkrampft. Wer finanziert eigentlich diese ganzen Strömungen?“

Die Modebranche kennt auf solche Fragen meist nur erstaunlich unbefriedigende beziehungsweise gar keine Antworten. Der Versuch, die Prinzipien dieser verrückten Welt einmal von Grund auf zu erklären, wird meist vermieden, jedenfalls bleiben die großen Rätsel nach wie vor ungeklärt: wie entstehen Trends? Wieso finden wir plötzlich dieses toll und jenes hässlich, was vor zwei Jahren noch als Sünde oder Trend kategorisiert wurde? Ist die Mode wirklich so hässlich, dass sie alle sechs Monate geändert werden muss, wie Oscar Wilde einmal spitzfindig bemerkte? Wieso kam Phoebe Philo im Sommer 2013 auf die Idee, Birkenstock-Sandalen mit Nerzbesatz ein mondänes Upgrade zu verschaffen, und wieso sind Birkenstock-Sandalen deshalb neuerdings der letzte Schrei?

Die Modejournalisten, die eigentlich in der Pflicht stünden, diesen Fragen nachzugehen, versuchen statt theoretischer Antworten lieber mit Trendreports und Einkaufstipps Ordnung ins Chaos zu bringen. Wo Modeerscheinungen ihren Ursprung haben, warum sie plötzlich da sind und ebenso schnell wieder verschwinden, fragen die wenigsten. Geschweige denn, ob wir uns diesem Konsumdiktat, wenn es denn eines ist, tatsächlich unterwerfen wollen/sollen/müssen.

Meine Mutter hält mich für eine Trendexpertin und stellt deshalb jede Saison die gleiche Frage: was ist dieses Jahr in, Clairette? Was soll ich kaufen? Diese Frage treibt mich in den Wahnsinn. Ich glaube nicht (mehr) an Trends. Der Trend ist ausgestorben. Tatsächlich gibt es Strömungen – wie in diesem Jahr die Adilette, die Birkenstock-Latsche, weite Hosen, bauchfreie Tops, churro ice cream sandwiches – aber die Angst, allein dazu stehen, wenn man in diesen Strömen nicht mitschwimmen will, muss heute keiner mehr haben. Der Modetrend dieses Jahrzehnts ist, dass es keine Modetrends mehr gibt. Das liegt vor allem daran, dass Frauen in den Industriestaaten heute dank der fortschreitenden Emanzipation in verschiedenste Rollen schlüpfen können. Neben der plumpen Adilette lebt der elegante High Heel, in engen wie in weiten Jeans kann man nach wie vor lässig aussehen, Midikleid und Herrenhemd hängen friedlich nebeneinander im Kleiderschrank und bauchfreie Tops vertragen sich sowieso nicht mit allen Bäuchen.

Die Modewelt ist ein rechtsfreier Raum geworden, in dem jeder nach Lust und Laune Gesetze brechen oder ignorieren darf. Die Adilette ist für diese Entwicklung nur der aktuellste Beweis: man kann sie heutzutage zu Badehosen wie zum Cocktailkleid kombinieren. Man kann sie aber auch potthässlich und verboten finden und stattdessen russische Holzpantoffeln anziehen, wenn einem danach ist. Der individuelle Stil herrscht über das Diktat des Kollektivs. Ob ich gut angezogen bin oder nicht, konstituiert sich heute aus meinem persönlichem Empfinden darüber, was mir steht, was einen interessanten Look ergibt, was innovativ ist, ohne verkrampft zu wirken.

So kommt es, dass auch ich neuerdings mit Vergnügen meine Adiletten zum Bustierkleid von Vika Gazinskaya ausführe. Ich fühle mich darin feminin und jungenhaft zugleich, die Kombination wirkt vitalisierend und behaglich, und doch weiß ich, dass ich ebenso gut halsbrecherische High Heels zu der Robe kombinieren könnte, wenn mir gerade danach ist. Mit Badelatschen dazu wird das Kleid hingegen entschärft, so lässt es sich auch im Alltag tragen, ohne dass ich mir gleich wie eine Braut auf dem Weg zum Altar vorkommen muss. Oben hui, unten Adilette. Ob das nun „in“ ist? Ob ich mich nächstes Jahr für diesen Look schäme? Wenn es so ist: warum nicht? Es wäre doch sowieso langweilig, jede Saison das Gleiche anzuziehen.

Alle Bilder: Julia Zierer/Style.de. Kleid: Vika Gazinskaya für & Other Stories. Schuhe: Adiletten und Adidas Superstar