Das blaue Glück

VOR DER JEANS SIND WIR ALLE GLEICH

Kann man die Jeans noch neu erfinden? Die Modeillustrierten sagen: natürlich! Jedes Jahr wird der von InStyle und Glamour so heißgepriesene „Denim-Trend“ wieder als innovative Weltneuheit ausgerufen – seltsamerweise meistens zum Beginn der Sommersaison, als ob die Leute im Winter keine Jeans tragen würden. Es gab einen Denim-Trend 2009 (Jeanshemden bei Alexander Wang, Jeansoveralls bei DKNY, Jeans-Volantkleider von Marc Jacobs, Jeans zu Glitzer bei Balmain, Jeans zu Leder bei Givenchy), einen Denim-Trend 2010 (Jeans von Kopf bis Fuß bei Chloé, Jeanshosen mit Schnallen bei House of Holland, Jeans-Mützen bei Ralph Lauren), einen Denim-Trend 2011, 2012, 2013 und so weiter. Dieses Jahr gibt es Schuhe aus Jeans, Jeans-Culottes, Schlagjeans, Jeans mit Fransen.

Verwirrend ist an der allsaisonal wiederkehrenden Begeisterung ihre Begrifflichkeit. Weil Jeans nämlich immer da sind, können sie de facto kein Trend sein. Der blaue Zwirn ist keine Modeerscheinung, sondern ein unzerstörbares Gewebe in jedem noch so launischen Kleiderschrank. Darin besteht der Zauber der Jeanshose. Vielleicht ist sie, neben dem weißen T-Shirt und der schwarzen Lederjacke, eines der letzten Materialien, das die Modewelt noch nicht tot-getrendet hat. Auf unerklärliche Weise kann man sich an einer richtig guten Jeans einfach nicht leidsehen, egal wie viele Denim-Trends die Vogue schon wieder erspäht haben will. Warum ist das so?

Vor der Jeans sind wir alle gleich. Das lässt sich schon auf ihre Herkunft zurückführen, schließlich waren Jeans früher Arbeiterhosen. Erst in den späten 50er Jahren wurden sie zum Alltagsbeinkleid für Männer und Frauen. Der blaue Stoff ist geschlechtsneutral, er steht Männlein und Weiblein gleichermaßen. Kaum ein Kleidungsstück ist mit so vielen unterschiedlichen Codes behaftet: dem Rebellen-Chic des Marlon Brando, der Wildheit des Cowboys, der lässig-urbanen Erotik einer Calvin-Klein-Kampagne, der natürlichen Sinnlichkeit der Marilyn Monroe in „The Misfits“.

Jeans können alles: sexy, cool, maskulin, feminin, jugendlich, klassisch, rebellisch, sogar elegant aussehen. „Können Sie auch mit einer Jeans tragen“, sagt die Verkäuferin in der Modeboutique, wenn man gerade ein komisches Oberteil in Grün und mit Rüschen anprobiert und fieberhaft überlegt, was aus dem heimischen Kleiderschrankfundus wohl dazu passen könnte. Im Zweifel immer eine Option: die Jeans. Jeans sind neutral, ohne langweilig zu werden, nie zu schick, nie zu schlampig. Jeans sind die Krönung des Mainstreams, ohne je ordinär zu werden.

Es gab eine Zeit, in der ich fast keine Jeans getragen habe. Da war ich 17 Jahre alt und feilte mit größter Hingabe an meinem Status als extravagantestes Mädchen der Schule. Alle trugen Skinny-Hosen und Sweatshirts, ich trug Plateausohlen, Faltenröcke und rosa Hosen mit Palmendruck. Die Erleuchtung kam, als Marc Jacobs im Herbst 2013 seine finale Kollektion für Louis Vuitton zeigte: opulent bestickte schwarze Jacken, transparente Tülltops mit Perlenfransen, gefiederter Varieté-Kopfschmuck – und dazu: einfache Blue Jeans. Die waren der heimliche Clou dieser Kollektion, verantwortlich für Harmonie und Bruch der 41 gezeigten Looks. Ohne den robusten blauen Arbeiterhosenstoff hätte das viele Dekor, die Fransen und Perlen und Stickereien, pathetisch gewirkt. Zur Jeans wurde es souverän. Da wurde mir klar: richtig gut angezogen ist nur, wer authentisch aussieht. Für diesen entscheidenden Faktor sorgt die Jeans. Weil sie jeden noch so bemüht wirkenden Look herunterbricht, entschärft und damit automatisch lässig aussehen lässt.

Das ist das Geheimnis der Jeans. Sie funktioniert als stilsichere Grundierung für modische Extravaganzen. Deshalb müssen Jeans auch nicht trendy sein. Jeans mit aufgenähten Smileys, mit applizierter Spitze, mit Tülleinsätzen oder Schnallenbeschlägen sind zwar ganz lustig. Aber sie werden der Jeans in ihrer reinsten Form, mit indigoblauer Waschung und geradem, schmeichelhaften Schnitt nie den Rang ablaufen. Das sehen wir an meinem Outfit oben, in dem ich letzte Woche durch Paris lief: weil Modewoche war, trug ich schwarze Mules mit Blumenstickerei und Marabufedern, eine olivgrüne Bomberjacke über einem bedruckten trägerlosen Oberteil und untendrunter noch eine weiße Bluse mit drapierten Ärmeln. Ein Outfit aus lauter hysterisch schnatternden, komplizierten Kleidungsstücken – die erst dann gemeinsam Sinn machen, wenn sich eine neutrale und dabei unfehlbare Größe dazu gesellt: die Jeans.
Jeans „Jay“ von Closed
Bomberjacke von Sandro, weiße Bluse von Acne, bedrucktes Top von A Détacher, Mules von Sophia Webster.
Headerbild von Tommy Ton für style.com, zweites Bild von Adam Katz Sinding für W Magazine, drittes und viertes Bild von Sandra Semburg.
– In Kooperation mit Closed –