So ging es mir, als ich nach Berlin kam. Ich bin Frühaufsteherin und Nichtraucherin, ich meide Nachtclubs, ich trage hohe Schuhe, ich bügle meine Jeans. Und ich komme aus Hamburg. Auch nach fast drei Jahren in Berlin bin ich immer noch keine Berlinerin. Anonyme Stimmen haben verlauten lassen, die Clairette sei doch „diese Hamburger Tussi, wahrscheinlich aus reichem Hause“. Weiß nicht, wer oder wie man auf so was kommt, aber Berlin ist eben keine nette Stadt, sondern am Ende auch nichts anderes als ein großes Dorf, in dem viel getratscht wird und in dem sich jeder Neuankömmling erst mal seinen Platz suchen muss. Berlin ist kein Ort, der Dich mit offenen Armen empfängt.
Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich verstanden habe, was Berlin trotz mangelnder Herzlichkeit zu einer so unschlagbar tollen Stadt macht. Tatsächlich kann hier jeder seine Nische finden. Vom Ostkreuz bis nach Charlottenburg, vom Sisyphos bis zum KadeWe, vom Umweltschützer in Cordhose bis zur Literaturstudentin mit Seitenscheitel – Berlin nimmt sie alle auf. Das macht diese Metropole nicht gerade harmonisch, aber sehr aufregend. Berlin ist ein Ort mit vielen Schubladen.
Seit 25 Jahren ist die Stadt wieder geeint, und doch spricht man hier immer noch in Himmelsrichtungen, in Ost und West. Selbst wenn die Mauer längst gefallen ist: das raue Pflaster der Warschauer Straße in Friedrichshain, mit seinen Partytouristen, Junkies und anderen schrulligen Gestalten, könnte nicht weniger als ein paar Kontinente entfernt sein, wenn man einige S-Bahn-Stationen weiter westlich am Kurfürstendamm in Wilmersdorf aus dem Zug steigt.
Der Berliner Westen ist eine Region von jener speziell berlinerischen Gediegenheit, die sich selbst nicht ganz so ernst nimmt. Du kannst hier im Kaufhaus Dior-Uhren und Valentino-Handtaschen anschauen, Hummern beim Schwimmen zusehen und Dir die Nase an der Kuchenvitrine von Lenôtre platt drücken und anschließend vor den glänzenden Schaufensterscheiben einmal Pommes Rot-Weiß bestellen, oder eine Currywurst. Dann kommt eine Frau die Kantstraße runter gelaufen, sie trägt einen gelben Blazer und durchsichtige Seidenstrümpfe und einen blauen Hut und sieht so aus, als wäre sie Stammgast in der Schaubühne. Hinter dem gläsernen Hochhaus ragt die Gedächtniskirche ohne Kirchturm in den Himmel, typisch Berlin, ist ja immer eine halbe Baustelle.
Und dann stehst Du vor dem Bücherbogen am Savigny-Platz, wo es alles zu kaufen gibt, was das Bücherwurmherz begehrt: Walter-Dexel-Monografien, Architekturführer, Fotografiebände, Modezeitschriften. Davor grünt ein hübsch bepflanzter Park, einfach so mitten an der Stadt. Die Frühlingssonne scheint, die Leute sitzen vorm Café auf dem Bürgersteig, an den Klinkerbögen des Buchladens leuchten Graffiti-Kritzeleien, obendrüber rauscht die S-Bahn in Richtung Warschauer Straße vorbei. Wo kommst Du her, wo willst Du hin? Nach Friedrichshain, nach Wilmersdorf? Zum Rosenthaler Platz, oder doch nach Dahlem? In Berlin ist das egal. Die Stadt ist nämlich für alle da, hier ist für jeden was dabei. Herzlich Willkommen.