Man darf nicht vergessen, dass die Modewelt ein Showbusiness ist. Es geht um Selbstdarstellung, Selbstverschönerung, Verkleidung, vor allem aber um Inszenierung. Schlaue Marketingstrategen inszenieren vormals hässliche Kleider als dringend notwendige „Musthaves“ und sorgen dafür, dass wir unseren Geschmack alle drei Monate ändern; Stylisten und Fotografen inszenieren begehrenswerte Ideale von perfekten Gesichtern, perfekten Körpern und perfekten Outfits; Redakteure und Einkäufer in hohen Positionen inszenieren sich selbst als einflussreich, und die ganze Modebranche an sich folgt einer inszenierten Hierarchie. Wer sich wichtig gemacht hat, sitzt front row. Wer gerade ganz unten anfängt, ist ein Niemand und kriegt keine Einladung, bis er die Regeln verstanden hat.
Streetstyle war eigentlich mal genau das, was dieser Schein-und-Sein-Welt an wohltuendem Kontrast noch gefehlt hatte. Unbekannte Menschen, keine abgemagerten Supermodels und Hollywoodberühmtheiten, wurden in ihrem natürlichen Lebensraum, der Straße, fotografiert, weil man ihre Erscheinung für sehenswert und inspirierend hielt. Streetstyle wurde erfunden, um darauf aufmerksam zu machen, dass man interessant aussehende Menschen nicht nur als Illusionen in Hochglanzeditorials und auf roten Teppichen findet – sondern auch „in echt“ im täglichen Leben, vorm Supermarkt, im Café, ungeschminkt und in selbst gekauften, selbst kombinierten Outfits.
Diese Idee von Streetstyle hat keine Relevanz mehr. Zwar wächst die Zahl an Modepaparazzi von Saison zu Saison rapide – aber kaum einer von ihnen konzentriert sich noch auf das, was tatsächlich auf der Straße passiert. Letzten März saß ich durch Zufall mit meiner Freundin Sandra Semburg und Tommy Ton im Taxi. „Ist das überhaupt noch Streetstyle?“, fragte ich ihn. „Of course not. It’s fashion week style. Streetstyle is dead.“ Tommy hat mich auch schon zweimal fotografiert, zur Modewoche in Paris. Ich habe mich darüber gefreut, aber ob das nun ein Gütesiegel für tollen Stil ist, wage ich zu bezweifeln. Schließlich hat mich Tommy nicht auf dem Weg zum Bäcker in einem zufällig zusammen-gestellten Outfit überrascht. Sondern vor einer Modenschau. Ich wusste, dass er da sein würde.
Was heißt eigentlich guter Stil? Haben die Damen im Bild oben, von Kopf bis Fuß in Fendi eingekleidet (mutmaßlich auf dem Weg zur Fendi-Show), Stil? Sind meine Freundin Laura und ich, siehe Headerfoto, stilvoll angezogen (wir hatten uns morgens beide dreimal umgezogen)? Ist Stil etwas, das man sich mit viel Aufwand erarbeiten kann? Oder nicht viel mehr eine angeborene Lässigkeit im Umgang mit Kleidern, die sich nicht antrainieren, ausleihen oder gar kaufen lässt?
Ich kann nicht leugnen, dass ich mir zu den Fashion Weeks mit besonderer Akribie darüber Gedanken mache, was ich denn nun anziehen soll. Natürlich, weil es Spaß macht, zum Anlass einer Modenschau etwas Hübsches überzuwerfen – aber auch, weil ich darauf hoffe, von den Fotografen wahrgenommen zu werden. Warum scheinheilig so tun, als wäre es mir egal? „Du steigst aus dem Auto und alle stürzen sich auf dich, um dich zu fotografieren – was gibt es Schöneres?“, gesteht auch Veronika Heilbrunner treuherzig in der Sendung „Wir sind Fashion“, die am Wochenende auf Arte lief.
Doch der Kampf um die Aufmerksamkeit hat sich verschärft. Immer mehr Menschen wollen beim großen Schaulaufen vor den Schauen gesehen werden. Die Fotografen, selbst in Turnschuhen und Jeans, sind die Hohepriester dieses Zeremoniells, sie entscheiden, ob man einen Schnappschuss wert ist. Der Druck steigt. Wenn nur noch zur Fashion Week in Paris und Mailand „Streetstyle“ fotografiert wird, und nicht mehr in einer Fußgängerzone von Helsinki, wenn um dich herum also plötzlich alle total schick angezogen sind, dann muss du dir echt was einfallen lassen, um gesehen zu werden. Die eigene Garderobe, das, was tatsächlich noch den eigenen Stil reflektieren würde, reicht da längst nicht mehr aus. Immer mehr Leute lassen sich deshalb zu den Modewochen von hochkarätigen Luxuslabels ausstatten. Sie tragen ein Kleid von Erdem zur Show von Erdem, und eine Hose von Proenza Schouler zur Show von Proenza Schouler. Sie tragen Komplettlooks von Miu Miu, die man genau so auch auf dem Laufsteg sah, dort vielleicht mit anderen Schuhen.
Ausgestattetwerden ist das legale Doping des Streetstyle-Wettkampfs. Phil Oh und Tommy Ton stört das nicht: Sie drücken auf den Auflöser, wenn das Gesicht bekannt und die Markenkleidung am Körper prestigeträchtig ist. „Streetstyle“ ist zu einer Theaterinszenierung mit immergleicher Besetzung und Kostümierung geworden. Never change a winning team, gell?
Als Streetstyle aufkam, mit Pionieren wie Scott Schuman alias The Sartorialist, dachte man: das ist es. Endlich mal echte Menschen in eigenen Kleidern mit ausgefallen Styling-Ideen, Leute, mit denen man sich identifizieren und von denen man sich was abschauen konnte. Aber längst ist aus dem spontanen Schnappschuss eine ganze Industrie geworden. Das Geschäft mit der Aufmerksamkeit ist lukrativ. Es gibt Leute wie Pernille Teisbaeck, von denen keiner so wirklich weiß, wie ihre eigentliche Berufsbezeichnung lautet. Berühmt wurde sie als „Fashion Influencer“, Tommy Ton fotografiert sie jede Saison bestimmt hundert Mal. Die Rechnung geht auf: Siehst du gut aus und hast was von irgendeiner tollen Marke an, wirst du fotografiert. Wirst du fotografiert, wirst du berühmt. Wirst du berühmt, wollen Modehäuser mit dir arbeiten. Wollen Modehäuser mit dir arbeiten, kriegst du Geld dafür, in Couture herumzulaufen, wohnst in feinen Hotels und bist jeden Abend bei einem anderen Private Dinner zum Abendessen eingeladen. Klingt nicht übel, was? Streetstyle-Star zu werden ist noch einfacher als Modebloggen. Alles, was man braucht, sind ein Instagram-Account, eine gute Figur und einen hemmungslosen Drang zur Selbstbeweihräucherung.
Aber ist das noch Stil, wenn man sich, wenn auch nur unterbewusst, bloß noch der Aufmerksamkeit zuliebe anzieht? Wo bleiben in diesem Gewusel die originell, aber authentisch gekleideten Leute mit eigenem Geschmack, die sich in erster Linie zu ihrem persönlichen Vergnügen angezogen haben? Ich habe festgestellt, dass mir wirklich interessant gekleidete Leute immer häufiger abseits der übervölkerten Streetstyle-Manegen begegnen. Letztes Jahr lief ich in Soho einem dunkelhäutigen Mädchen in weißem Hemd und Turban auf dem Kopf über den Weg, Sandra hat sie fotografiert.
Das ist Streetstyle, dachte ich. Und neulich in Berlin in der S-Bahn stand mir gegenüber ein junger Mann in perfekt sitzenden olivgrünen Chino-Hosen, kariertem Seidenhemd, Strohhut und Mokassins. Streetstyle, das ist die unbekannte Frau in diesem wunderschön flatternden Seidenkleid, die wie ein Windhauch an dir vorbei zur Bushaltestelle eilt. Streetstyle ist das Mädchen am Nebentisch im Café, das Glitzersocken in den Turnschuhen trägt. Streetstyle ist, was zufällig und ohne Effekthascherei passiert. Stilsicher sind Menschen, die sich für niemand anderen als sich selbst angezogen haben. Denn sich verkleiden, das kann jeder. Gut angezogen sein nicht.
Alle Bilder von Sandra Semburg