Vorgewärmte U-Bahn-Sitze

DANN LIEBER STEHEN. ODER?

Bildschirmfoto 2015-09-23 um 5.39.44 PMDie U-Bahn ist ein Luxus der schnelllebigen Großstadt. Wer im Kuhdorf wohnt, verschwendet viel Zeit mit Busfahren und an Bushaltestellen herumstehen und auf Busse warten, die nie ankommen, weil schon 15 Uhr ist und deshalb Betriebsschluss. Natürlich gibt es auch moderne Metropolen, in denen man alles findet, was man zum Leben braucht – nur keine U-Bahnstation. Beirut ist so ein Fall. Man kann dort französisches Entrecôte essen und auf Dachterrassen Litchi Martinis trinken, aber um von A nach B zu kommen, muss man entweder Sammeltaxi fahren oder zu Fuß gehen.

Wer also in einer Stadt mit U-Bahn-Netz wohnt, sollte sich gefälligst nicht beschweren. Trotzdem birgt natürlich auch die Annehmlichkeit einer U-Bahn, wie jeder andere Luxus, so manches Hindernis. U-Bahnfahren ist schön, viele Menschen tun es. Manchmal ist es im Wagon deshalb so voll, dass man nur noch stehend unter der triefenden Achselhöhle eines zwei Meter langen Geschäftsmannes unterkommt. Man würde sich gerne hinsetzen, denn man hat müde Beine, ist den ganzen Tag herumgelaufen. Die Augen suchen nach einem freien Platz. Zum Glück steigen an der nächsten Station viele Leute aus. Da, ein leerer Sitz! Herrlich. Erleichtert sinkt man auf das Filzpolster, die Beine geben nach, die Glieder entspannen…

Da spürt man unter den Pobacken eine komische Wärme. Nicht wie von einer Sitzheizung, nein, irgendwie schwüler. Der Sitz dampft. Hier muss gerade eben noch ein anderer Hintern gesessen haben, der zu einem anderen Menschen gehört, der wiederum genau dort, wo man gerade den eigenen Po platziert hat, diverse Körperflüssigkeiten und -gase ausgedünstet hat. Man möchte nicht wissen, welche Art von fremden Sekreten das eigene Jeanshosengewebe da gerade aufsaugt.

Das Luxusproblem des vorgewärmten U-Bahnsitzes resultiert aus dem Mangel an Diskretion, mit dem der Großstadtbürger zu kämpfen hat. Man glaubt es bei der Metropole mit all ihrem fortschrittlichen Komfort – den Glashäusern und Dachterrassen und Coffeeshops und Rolltreppen und U-Bahnen – mit einem Schlaraffenland der Exklusivitäten zu tun zu haben. Dabei stimmt das gar nicht. Der noch hinternwarme U-Bahnsitz erinnert uns an das größte Luxusproblem des Metropolenlebens: Du bist hier, anders als an der Bushaltestelle im Kuhdorf, nie für dich allein.

Bild: Magdalena Frackowiak für Alberta Ferretti, Kampagne Herbst/Winter 2008