„Berlin nervt“, stand neulich irgendwo auf Facebook, und es ist davon auszugehen, dass diese Hinterlassenschaft von einer Person stammte, die selbst in Berlin lebt. Denn über Berlin lästern tut prinzipiell nur, wer in Berlin wohnt. Berlin ist zu voll, zu cool, zu beschäftigt, zu touristisch, zu wannabe New York, alle sind Veganer und arbeiten für ein Start-Up und das ist prinzipiell erst mal blöd zu finden, warum, weiß ich auch nicht. Eine Zeitlang war auch ich eine von denen, die immer nach Berlin wollten und es dann doof fanden, als sie endlich da waren. Und ja, ich gebe zu, auch mir kann es passieren, dass ich an einem Samstagmittag nach eineinhalb Stunden Avocado-Toast-Wartezeit in einem überfüllten Café in Mitte von Hunger und Missgunst überwältigt werde und sage: „Berlin nervt“.
Aber im Großen und Ganzen bin ich ganz froh, hier zu sein. Und zwar genau deshalb, weil es in Berlin zur Not immer einen Ausweg aus der Routine gibt, wenn einem alles zu viel wird, die Decke auf den Kopf fällt und die Gentrifizierung zu stark auf die Pelle rückt. Dann steigt man am besten in ein Auto und fährt so lange in eine Himmelsrichtung, bis die Frauen Kopftücher tragen und die Friseurläden arabische Namen haben und man sich ein bisschen so vorkommt, als wäre man gerade in Jordanien gestrandet, dabei ist man bloß im Wedding. Warum es „im“ und nicht „in“ Wedding heißt, weiß ich nicht, ich habe mir auch nicht die Mühe gemacht, es zu recherchieren, weil raten sowieso mehr Spaß macht. Ich glaube, es heißt „im“, weil Wedding eben viel mehr als nur eine Gegend ist, es ist so ein Ding, ein Karton, ein Loch, in das immer mal wieder Licht reinfällt.
„Wedding in Berlin finally has its moment“ schrieb die New York Times schon im vergangenen August, aber ich glaube, auf solche Theorien können nur Leute aus New York kommen, die ja bekanntlich auch Friedrichshain für das deutsche Brooklyn halten. Immerhin: Sarah Illenberger, die bekannte Illustratorin, soll sich hier schon eine Wohnung angeschaut haben. Es ist aber auch wirklich hübsch, im Wedding. Jedenfalls teilweise, meistens eher häuserweise. Auf jeden schmucken Gründerzeitbau folgt verlässlich ein Parkhaus, aus dessen Mauern braunes Gestrüpp wie Schambehaarung sprießt. Aber wenn man seine Zeit sonst in Berlin-Mitte verbringt, dann findet man sowas romantisch, genau wie auch die leerstehende Pizzabude mit den bunten Kacheln innen drinnen. Wem fallen denn solche schönen Kachelmuster ein? Und wer nennt ein Sexkino „Sunshine Bar“?
Ich erinnere mich, in meinem ersten Jahr in Berlin, das ich irgendwie nicht so toll fand, mal morgens um 4 Uhr mit Leuten, die nicht meine Freunde waren, im Nieselregen zu einem Technoclub namens Humboldthain gelaufen zu sein, mitten im tiefsten Wedding. Als wir endlich ankamen, fing es schon an zu dämmern. Um in den Club zu gelangen, musste man durch eine Art Irrgarten mit Hängebrücken und Schlingpflanzen laufen, jedenfalls habe ich das so in Erinnerung, und neblig war es auch. Ich fühlte mich, als habe man mich in meinem schlimmsten Alptraum ausgesetzt. Auf der Tanzfläche war es stockfinster, es roch nach Gras, es herrschte ein unbeschreiblicher Lärm, man kann es sich nicht vorstellen. Ich stolperte rückwärts durch den Marihuana-Dunst über die Hängebrücke, verlangte mein Geld zurück und rannte mit geschlossenen Augen nach Hause.
Seit dieser Nacht hatte ich Wedding nicht mehr betreten. Als ich nun neulich mal wieder da war, erlebte ich eine Art Wedding-Wiedergeburt. Ich spazierte an charmanten Geschäften für Gebrauchtmöbel vorbei, ich hielt auf der Bösebrücke meine Nase ins Sonnenlicht, ich naschte zuckersüße Birnenspalten beim Gemüsemann, ich aß ein köstliches Çiğ Köfte im Fladenbrot für 2 Euro, und wer nicht weiß, was Çiğ Köfte ist, der sollte schnell in den Wedding fahren und es probieren.
Ich glaube nicht, dass Wedding finally its moment hat, ebenso wie es ja auch das Kottbusser Tor im beliebten Kreuzberg nie aus der Zwielichtigkeit heraus geschafft hat. Aber man stelle sich vor, Wedding würde jetzt wirklich hip werden, und als nächstes Lichterfelde, und dann Marzahn. Wäre das nicht schrecklich? Ist es nicht schön, dass man sich in der eigenen Stadt gelegentlich noch so richtig fremd und verloren fühlen kann? Wer sich auskennen will, soll nach Nürnberg ziehen.
Passend zu meinem Ausflug ins Unbekannte habe ich mir Klamotten von jungen, unbekannten Designern angezogen, darunter auch einen Kapuzenpullover von Vetements, in dem man mich wahrscheinlich nicht wieder erkennt, vor allem, weil ich ja gerade eben noch über Vetements hergezogen bin. Aber studieren geht über probieren.
– Fotografiert von Julia Zierer –
Bluse von Isa Arfen, Jeansjacke von Levi’s, Jeans von Paul & Joe, Ohrringe von Versace (Vintage) Pullover von Vetements, Clutch von Sarah’s Bag, Hose von 3.1. Phillip Lim
Jacke von Natasha Zinko
Häkelkleid von Rachel Comey, Jacke von Natasha Zinko
Hut von Yosuzi
Gelbe Bluse von Thierry Colson, Jeans mit Hosenträgern von SEA
Kleid von Isa Arfen, Schuhe von & Other Stories
– Ein Großteil der gezeigten Stücke wurde von MatchesFashion ausgeliehen. –