„Armes Kind“, sagt meine Mutter immer, wenn wir telefonieren. Sie sagt es in sämtlichen Zusammenhängen. „Bin gerade nach Hause gekommen“, sage ich. „Armes Kind!“ ruft sie aus. „Ich muss jetzt meine Wohnung putzen“, sage ich. „Armes Kind!“ ihr Kommentar. Der Ausruf erfolgt meist reflexartig. Wenn es aber ums Essen geht, meint Maman es ernst. „Ich mache mir jetzt einen Avocado-Toast“, sage ich. „Armes Kind!“ zetert sie los, „einen Avocado-Toast!?“ Aus Sicht meiner Mutter ist eine Scheibe Brot mit Avocado obendrauf in Sachen Nahrhaftigkeit gerade so eben mit einer Gefängnismahlzeit zu vergleichen. Eigentlich fällt der Avocado-Toast für meine Mutter gar nicht mehr in die Kategorie Nahrung. „Armes Kind, das ist doch kein Essen“ sagt sie. „Willst Du Dir nicht mal einen schönen Eintopf kochen? Oder ein Steak braten?“
Nein, ich will mir kein Steak braten, habe ich lange Zeit genervt geantwortet. Ich gehöre schließlich zur Generation Avocado. Die Generation Avocado lebt in den hippen Gegenden deutscher und internationaler Großstädte. Sie trinkt viel Kaffee. Sie arbeitet am Laptop. Sie hat einen Instagram-Account, einen Eames-Stuhl, einen Kaktus und eine Bauhauskommode vom Flohmarkt. Sie isst selten Brot, dafür viel Quinoa. Und wenn sie doch mal Brot isst, dann legt sie eine Avocado obendrauf. Der New Yorker hat das Phänomen „artisanal toast“ getauft. Der Avocado-Belag ist nur eine von vielen Variationen des „artisanal toast“, jedoch der mit Abstand populärste. Auf Instagram findet man rund 716 441 Bilder unter dem Hashtag #avocadotoast (Stand März 2018). Wieso eigentlich Avocado? Wieso nicht Appenzeller?
Die Avocado hat einen Migrationshintergrund, allein das verleiht ihr natürlich schon mal einen besonderen Reiz. Die Leute haben immer gern exotisch gegessen – früher Toast Hawaii, heute, wo Dosenobst und Schablettenkäse unmodern geworden sind, eben Toast Avocado. Auch ich konnte mich dem betörenden Exotismus der Avocado nicht entziehen. Eine sehr lange Zeit habe ich mich von wenig anderem als Avocado auf Brot ernährt. Nun bin ich soweit, dass mir die grüne Frucht aus den Ohren wieder herauskommt, ich vorerst nicht in die Nähe eines Avocado-Toasts kommen möchte und das Phänomen somit aus reflektierter Distanz kritisch bewerten kann.
Was ist das Geheimnis der Avocado? Worin besteht, abgesehen von der ausländischen Herkunft, ihre Anziehungskraft? Mit Unterstützung von Prominenten wie Gwyneth Paltrow, „die rät, immer eine Avocado in der Handtasche dabei zu haben“, wurde die Südfrucht als sättigender, fettreicher, kohlenhydratarmer, hautbildverschönender, cholesterinsenkender, kreislaufanregender und im Großen und Ganzen lebensverlängernder Alleskönner bekannt. Weil sie sich schnell und einfach auf einer gerösteten Scheibe Brot platzieren lässt, ist sie die ideale Speise für gehetzte, aber gesundheitsbewusste Großstadtmenschen, die sich nicht mit Tiefkühlpizza oder Dosensuppe zufrieden geben wollen.
Wie all diese schwer beschäftigten Kosmopoliten habe auch ich lange behauptet (und mich mit dieser Aussage insgeheim sehr cool gefunden), dass ich zum Kochen „keine Zeit hätte“. „Ich koche nicht“, sagte ich „ich mache Essen.“ Dann ging ich in die Küche und bereitete mir ein Sandwich aus Brot und exotischer Gemüsefrucht. Wenn ich gerade ganz fantasievoll drauf war, kamen vielleicht noch ein paar Tomaten obendrauf, in Ausnahmefällen ein pochiertes Ei. Das Ganze nannte ich dann Abendessen. Tagelang. Wochenlang. Weil die Avocado ein so tolles Image hat, glauben heute viele Menschen, das Gemüse als Platzhalter für sämtliche Mahlzeiten missbrauchen zu können. Aber genau darin liegt das Problem des Avocado-Toasts.
Ein Avocado-Toast ist, Grüße an Maman, eben kein Abendessen. Er ist ein veganes Käsebrot, ohne Käse, mit Avocado. Eigentlich komisch, dass die Avocado-Stulle so populär wurde. Leben wir heute nicht in einer Zeit, in der maximale Diversität und Flexibilität in allen Lebenslagen als Gipfel des Genusses betrachtet werden? So erklärte die FAZ kürzlich ja auch das Revival des Porridge: der Haferschleim sei aufgrund seiner Wandelbarkeit wieder neu entdeckt worden. Er ließe sich mit allerlei Milchsorten, Beeren, Datteln, gerösteten Cashewnüssen, Ahornsirup, Bitterschokolade oder Erdnussbutter immer wieder neu variieren. Nach dieser Logik müsste der anspruchsvolle Jungbürger, der morgens Porridge frühstückt, zum Abendessen doch etwas ähnlich Variables wie zum Beispiel Risotto bevorzugen. Aber Avocado-Toast? Der ist doch das Gegenteil von wandelbar, nämlich ganz schön langweilig und uninspiriert. Wonach schmeckt überhaupt Avocado? Genau: nach gar nichts. Jedes Käsebrot, auf das man eine Scheibe würzigen, monatelang gereiften Gruyère legen kann, ist aufregender als ein Avocado-Toast.
Ich habe mir neulich das Kochbuch „Wochenmarkt“ von Elisabeth Raether zugelegt. Für die Wochenmarktküche braucht man selten länger als 45 Minuten und nie mehr als zwei Töpfe. Nur einen Herd, gute Zutaten, Leidenschaft und Hingabe. Seitdem ich dieses tolle Buch besitze, habe ich, die gestresste Großstadtfrau, plötzlich Zeit zum Kochen. Statt Avocado-Toast bereite ich mir so herrliche Sachen wie Caponata, asiatische Hühnersuppe, Risotto mit Mangold, pochierte Eier in Rotwein oder orientalisches Curry zu. Wer behauptet, keine Zeit zum Kochen zu haben und deshalb nur von Avocado auf Brot lebt, bedient sich einer faulen Lüge. Genau so, wie man sehr wohl Zeit dazu haben kann, zum Sport zu gehen, wenn man nur will, kann man sich mit der richtigen Motivation auch sehr wohl ein ordentliches Abendessen kochen. Es muss ja kein Filet Wellington werden.
Mein nächstes Kochvorhaben nach Raethers Anleitung ist übrigens Steak mit Blue Cheese Sauce. Maman wird sich freuen.
Headerbild: Illustration von Sarah Illenberger