Die Mythen des Sommers, entlarvt

SOMMERLOCH? SOMMERABGRUND!

Bild: Coco Capitán für M Le Magazine du Monde

Seit Mitte April denke ich ungefähr einmal am Tag, dass ich ein Eis essen gehen müsste. Weil doch Sommer ist. Dabei esse ich gar nicht so gerne Eis. Ich fühle mich von Eis betrogen, vor allem von Erdbeereis, das einfach NIE nach echten Erdbeeren schmeckt. Eisessen ist ein Beispiel für einen klassischen Sommermythos. Sommermythen beginnen immer mit denselben drei Worten: Man müsste doch. Man müsste doch mal ein Eis essen. Man müsste doch mal ein Boot mieten. Man müsste doch mal einen Sonntagsausflug machen. Man müsste doch zum Grillen einladen, die Beine hochlegen, Tomaten pflanzen, sich verlieben, Stockbrot essen, nachts ins Freibad gehen.

Vielleicht liegt es daran, dass wir das ganze Jahr sehnsüchtig auf den Sommer warten, und ihm entsprechenden Legendenstatus verleihen wie dem Popstar, der hinter getönten Autofensterscheiben für seine Fans ein glitzernd umrahmter Schatten bleibt – bis sie ihn eines Tages im Restaurant am Nebentisch sitzen sehen und feststellen müssen, dass er einen fetten Pickel am Kinn hat. Meiner Meinung nach steckt der viel kommentierte deutsche Sommer voller Mythen, die dringend entlarvt werden müssen. Ich melde mich freiwillig, das zu tun, und zwar jetzt sofort.

Picknick

Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das wahre Gesicht des Picknicks kennen lernte. Als Kind fand ich die Vorstellung, picknicken zu gehen, fantastisch. Picknicken, das war ein Abenteuer in der Wildnis, das war wie Zelten (auch davon träumte ich). Die Freude am Camping verging mir zuerst – und zwar, als ich während eines Hockeyturniers 48 Stunden in einem schlammgefluteten Großraumzelt ausharren musste, bevor ich, auf 34 Grad Körpertemperatur heruntergekühlt, in eine stinkende Umkleidekabine floh. Ans Picknicken glaubte ich länger. Dabei ist das Picknick ein einziges Ärgernis. Die Weinflasche kippt verlässlich um, wenn nicht von selbst, dann vom unachtsamen linken Fuß eines Picknickteilnehmers. Der Wein ist natürlich lauwarm und wird dem Pragmatismus zuliebe aus Plastikbechern getrunken. Essen kann man nur Dinge, die hitzebeständig sind, auch in Transportbehältern noch appetitlich aussehen und sich ohne Besteck essen lassen, denn das vergisst man ja IMMER. Also eigentlich gar nichts. Auf der Wiese tummeln sich Ameisen, auch die fiesen, außerdem Brennnesseln, Hundehaufen, Glasscherben, die Picknickwiese ist der reinste Gazastreifen. Obendrein muss man es erst mal schaffen, auf einer Wiese eine Position zu finden, die einerseits bequem ist und sich andererseits für die Nahrungsaufnahme eignet. Selig sind die, die den Lotussitz beherrschen. Ich, der einzige Mensch im Großraum Berlin, der kein Yoga macht, tue das nicht.

Idylle am Morgen

Bild: Rasha Kahil

Apropos Wiese: Wenn im Sommer der große Exodus in die Grünanlagen beginnt, kann man schnell Platzangst bekommen. Jedes Badeufer ist von mehr oder weniger unbekleideten Sonnenhungrigen belegt, es ist zum Davonlaufen. Aber zum Glück gibt es ja noch den Morgen, jene unberührte Stunde, in der alle anderen noch schlafen, nur man selbst nicht. Mythos! Ich gehe morgens gerne schwimmen. Leider herrscht morgens im Freibad Hochbetrieb. Schon um zehn vor sieben stehen sie wie die Streber vor der Schwimmbadpforte. Am besten präpariert man noch in der Schlange seine Schwimmbrille und entkleidet sich bis auf den Badeanzug, denn kaum öffnen sich die Tore, beginnt die Jagd auf die begehrte Außenbahn. Aber selbst wenn man es vor allen anderen ins Becken geschafft hat, ist der Kampf noch lange nicht gewonnen. Man muss nämlich jederzeit damit rechnen, dass eine von diesen rücksichtslosen Genussschwimmerinnen zu einem auf die Bahn stößt, die langsamer paddelt als eine herzkranke Schildkröte, eine Freundin zum Plaudern dabei hat und alle fünf Meter anhält, um die schöne Aussicht zu genießen. Es gibt in dem Schwimmbad, in das ich gehe, drei riesige Becken. Eines davon ist für sogenannte Sportler reserviert, was aber weder Genussmenschen noch hundertjährige Greise abschreckt. Neulich stieß ich beim Kraulen mit einem Senior zusammen, der auf der Seite schwamm und dabei wie ein ersaufendes Treibholz aussah. Er schwamm unberechenbare Zickzacklinien, ständig stießen wir zusammen. „Könnten Sie ein paar Zentimeter nach rechts rutschen?“ rief ich ihm schließlich nach einer erneuten Kollision zu. Aber Treibholz-Opa hörte mich nicht, oder wollte mich nicht hören.

Sex unter freiem Himmel

Mein eigener Opa (der gut schwimmen kann) und auch meine Eltern lesen dieses Blog, deshalb kann ich bei diesem Punkt nicht groß ins Detail gehen, aber so viel sei gesagt: Freiluftsex mag ein beliebtes Spielfilmmotiv sein, ist aber mit das Unromantischste, was man sich vorstellen kann. Im besten Fall wird man nach zwei Minuten von einer herumstreunenden Krabbe unterbrochen, im schlimmsten Fall macht man sich den Rücken kaputt. Unter freiem Himmel gibt es nämlich keine Matratzen. Auch Autosex habe ich noch nie verstanden. Wie soll das funktionieren? Wo soll man, wenn man zu zweit auf nur einem Sitz operiert, seine Beine hintun? Das Fernsehen ist voller Lügen, merkt euch das, Kinder.

Ausflüge

Als ich ein Kind war, machten wir im Sommer ständig Ausflüge. Ich war kein großer Fan davon. Mir machte es mehr Spaß, aus Bettlaken Hängematten zu basteln und Harry Potter unterm Apfelbaum zu lesen. Am liebsten schleppten uns meine Eltern ins Aboretum, eine permanente Gartenschau in Schleswig-Holstein. Ich machte mir nichts aus Blumenbeeten und hielt Gartenarbeit für Folter, entsprechend empfand ich diese Ausflüge in etwa so anregend wie drei Stunden Physikunterricht. Meine Schwester vertrieb sich die Langeweile, indem sie mir den Haarreif klaute. Allein die Fahrt zum Aboretum dauerte ewig, manchmal hoffte ich heimlich, meine Eltern hätten sich verfahren und wir würden umkehren. Kamen wir dann doch irgendwann an, fühlte ich mich geschwächt und außerstande, aus dem Auto auszusteigen. Das geht mir heute immer noch so, Autofahrten bekommen mir irgendwie nicht. Wozu also ausfliegen? Dahinter steckt doch nur die altbekannte Angst, etwas zu verpassen, dass jenseits des eigenen Gartenzauns stattfindet. Aber verpassen tut man eh immer was. Während eines Sonntagsausflugs zum Beispiel das Glück, einen ganzen Tag im Badeanzug auf dem Balkon zu liegen und zum fünften Mal Harry Potter und die Kammer des Schreckens zu lesen.

Das Sommerloch

Den allsaisonal durch Hitze und Grillduft verursachten Verfall der Arbeitsmoral bezeichnet der Volksmund gerne als Sommerloch, was ja irgendwie ganz sympathisch klingt. Ich habe mir das Sommerloch immer wie ein bequemes Planschbecken vorgestellt, aus dem man nicht mehr rauskommt. Tatsächlich ist es viel tragischer. „Nichts ist unerträglicher als die Freiheit, sobald man sie besitzt“, schrieb James Baldwin einmal, und diese Theorie lässt sich auch ganz gut auf den Sommer anwenden. Irgendwann, an einem trägen, verklebten Sommertag, erreicht einen verlässlich der bizarre und gleichsam dringende Wunsch nach heißem Tee und kalten Füßen, nach einer dichten, grauen Wolkendecke, die einen endlich mal wieder so richtig schlecht gelaunt sein lässt. Plötzlich ist einem alles zu grell, laut und schrill, das Blau des Himmels, die zentnerschwere Schwüle unterm Sonnenschirm, der Staub unter den Füßen, das Glühen des Asphalts, das Freibadgeschrei, das panische Brummen eingesperrter Fliegen, der Geruch überreifer Pfirsiche, die überm Ohr kreisende Stechmücke. Plötzlich hat der Sommer etwas Beklemmendes bekommen, wie ein alkoholisierter Mann, der so dicht hinter einem steht, dass man seinen Atem im Nacken spürt. Er hat seine Unschuld verloren, ist über den Berg, verdorben. Bald wird er seine Sachen packen und einen allein in der anbrechenden Dunkelheit zurücklassen. Es ist ein ganz spezielles Gefühl von Hoffnungslosigkeit, mit dem wir es hier zu tun haben. „Sommerloch“ – was für eine Verharmlosung.