Gegen den Strom – mitten im Strom?

Neulich sagte eine Freundin zu mir: “Immer willst du Individualität, du bist abhängig von deinem Anderssein!“ Ich wusste nicht recht, ob ich diese Aussage als Kompliment oder Beleidigung auffassen sollte. Was heißt denn heutzutage „individuell“?

Was heißt „anders“?

Im Grunde ist das Wort ’normal‘ das neue Maximum unter den Schimpfwörtern. ‚Normal‘ will keiner sein, nicht in der Welt der Kreativen und Künstler. Und das ist auch richtig so. Normalsein, das würde heißen, den Kopf in den Sand zu stecken, dem Lauf der Zeit nicht zu folgen, scheu abzuwarten, was der Durchschnitt treibt, um es dem Spießbürgertum dann gleich zu tun. Visionen, Innovationen, Moderne, das ist es, was die Kunst, die Kreativität, die Mode braucht, um Individualität entfalten zu können.

Doch eigenartigerweise liegen Individualität und Mainstream näher beieinander, als man glauben mag. Gerade noch fühle ich mich wahnsinnig avantgardistisch, überhaupt wahnsinnig, wenn ich mich in meinen kirschroten Doc Martens auf die Straße wage. Der unscheinbar gekleidete Mann, der mir in der Bahn gegenüber sitzt, mustert mein Schuhwerk mit einem Blick, in dem sowohl Neugier als auch Skepsis liegen.
Doch wenn ich zur BOYSBOYSBOYS-Party im bunten Hamburger Schanzenviertel gehe, in meinem schwarz-weiß-gescheckten Wollmantel, meiner großen schwarzen Brille, mit blutroten Lippen und kirschroten Füßen, dann gehe ich unter in einer Woge aus zierlichen Menschen mit wasserstoffblonden, halbrasierten Köpfen, übergroßen, umgestülpten schwarzen Latexmänteln und opulenten, knallbunten Plastikbroschen. Plötzlich erscheint mir mein Outfit banal, profan, normal.
Dann frage ich mich, während die Nerd-Brille (so lange schon passé !) verschämt in der Jackentasche verschwindet: Sind diese Menschen wirklich so abgedreht, verrückt, individuell, so beneidenswert mutig und selbstbewusst? Tragen sie diese ungestümen, originellen Modekreationen als Symbol ihrer Lebenseinstellung?
Oder ist es der krampfhafte Wille nach Individualität, nach modischer Ausdruckskraft, die sie damit schon wieder, aufgrund der fehlenden Authentizität dem Durchschnitt ausliefert? Sind sie nicht in Wirklichkeit alle Opfer der Modewelt? Finden sie dieses schwarze Gummicape denn eigentlich nicht doch deshalb so avantgarde, weil ein lustiger, schlauer Modestudent namens Gareth Pugh vor einigen Jahren auf die Idee gekommen ist, High-Heels mit 30cm-Plateau, Gummianzüge und würfelförmige Hüte auf den Laufsteg zu schicken?
Eigentlich schwimmen wir alle im Strom der Mode. Wir lassen uns mitreißen von aktuellen Erscheinungen, Trends, die wir in dieser Sekunde für das Größte der Welt halten, die wir aber noch vor einem Jahr als hässlich und lächerlich abgestempelt und im kommenden Jahr als altbacken und langweilig deklarieren werden.
Wir alle streben nach Individualität, ob krampfhaft oder als Symbol der persönlichen Lebenseinstellung, doch diese Individualität unterliegt, ob man will oder nicht, letztendlich doch dem, was die Modewelt uns vorgibt.
Aber jeder kann doch eigenes erschaffen! Do it yourself. Das ist der Schlüssel zur Individualität. Selbst innovativ produktiv werden. Inspirationen findet Karl Lagerfeld überall, warum also nicht auch ich? Ein Blick in die Kiste mit altem Kinderspielzeug, und vor meinem geistigen Auge sehe ich überdimensionale Colliers aus Legosteinen. Nur so als Beispiel.
Individualität ist eine Lebenseinstellung, etwas, was man für sich selbst bestimmt: ich habe mehr Spaß, wenn ich mein eigenes Ding drehe, wenn ich tue, was mir gerade in den Sinn kommt, ohne Rücksicht auf aktuelle Modeerscheinungen nehmen zu müssen. Ich drücke mich und meine künstlerische Neigung durch meine ganz eigene modische Persönlichkeit aus.
Natürlich kann nicht jeder basteln oder nähen oder in irgendeiner anderen Form kreieren. Aber das muss auch nicht immer sein. Denn diese Menschen, die in wirklich vollkommen übergeschnappten Outfits auf die Straße gehen, können wahrlich noch Gesellschaft gebrauchen. Man muss sich auch öffnen für Individualität und sie selbst praktizieren. Los, wagt euch in knallroten Overalls und mit gepunkteten Hüten in die Schule, ins Büro, in die Stadt, ins Restaurant, sonst wohin! Über Sexualität wird heutzutage offen gesprochen, über Extreme aller Art, Grenzen verwischen – nur wenn es um Mode geht, hat der Durchschnittsbürger noch viel zu viele Hemmungen. Mode bedeutet Spaß und ist zugleich ein tiefsinniger Indikator für die eigene Persönlichkeit. Hierin liegt die Individualität, von der wir in unserer heutigen Welt noch zu wenig haben. Los! Werdet individuell! Es lohnt sich!
Ach ja. Ich habe den zierlichen Wasserstoffblondschopf bei BOYSBOYSBOYS gefragt, woher er denn diesen tollen Latexmantel habe. Er hat ihn selbst genäht.