Begegnen wir der Mode, der wahren Schneiderkunst, der unbändigen Kreativität, die hinter den Kreationen der hart arbeitenden Designer steckt, überhaupt noch mit dem Respekt und der Würdigung, die sie verdient haben?
Die Mode ist heute demokratisch geworden – wir alle nehmen teil an dem riesigen Zirkus, der hinter dieser Branche steckt, wir alle lassen uns von den Zeitschriften über mögliche Outfits für alle erdenklichen Anlässe beraten, und wir alle können selbst über die Mode urteilen und unsere Meinung kundtun, in dem wir uns einfach einen Blog-Account erstellen und drauflos schreiben. Wir, das Volk, können anziehen, was auch Modeköniginnen wie Anna dello Russo oder Taylor Tomasi Hill tragen – indem wir zu H&M in die Trendabteilung rennen und dort chinesische Polyesterkleidchen und Acrylpullover kaufen, die fast genau so schick sind wie die Originale von Marc Jacobs, Tomas Meier oder Frida Giannini. Die Mode ist heute genau so alltäglich geworden wie die Stromrechnung oder der Aldi-Einkauf. Das ist zum einen gut; früher trugen lediglich Adel und Klerus die feinen Zwirne, während das Proletariat im Kartoffelsack ging – Kleidung galt als wichtiger Indikator für Arm oder Reich. Heute ist allen Gesellschaftsschichten der Zugang zu schönen Kleidern gewährt, was durch Kooperationen berühmter Luxusmarken mit der Massenmodeindustrie natürlich noch weiter verstärkt wurde. Warum sollte das nicht so sein? Wir alle haben ein Recht auf Mode.
Andererseits kommt es doch einer maßlosen Entwürdigung der Arbeit der wirklich kreativen Modeschöpfer gleich, wenn wir nach dem Scannen der InStyle-Trendseiten zur nächsten ZARA-Filiale rennen, um eine dreiste Marc-Jacobs-Kopie von zweifelhafter Qualität zu erstehen. Doch nicht nur dieses ungenierte Nachahmen der Fast-Fashion-Firmen, auch das Zusammenbündeln mit Liebe zum Detail erdachter Kleider zu unübersichtlichen Trendcollagen kann durchaus als Respektlosigkeit gegenüber der Arbeit jedes einzelnen Designers gewertet werden. So finden wir den perfekt konstruierten Wintermantel von Proenza Schouler, in dem vielleicht mehr als hundert Stunden Näharbeit stecken, zu Beginn der Saison als winziges Foto zwischen unzähligen anderen Laufstegbildern im GLAMOUR-Saisonspecial in einer riesigen Collage wieder, vielleicht unter dem Oberbegriff „Geometrische Muster“ oder „Fifties“. Nicht mehr das einzelne Kleidungsstück, sondern der Trend steht heute im Fokus, und zu jedem Haute-Couture-Kleid wird gleich die entsprechende, bezahlbare Imitation mitgeliefert. Hat diese modedemokratische Revolution die Mode selbst, und das feine Kleidungsstück an sich, kaputt gemacht?
Vor gut zwei Monaten konnte man während des Arte Fashionweekends, zu dem der deutsch-französische Sender ausschließlich modespezifisches Programm ausstrahlte (wie ich finde eine sehr gelungene Huldigung der Mode!) auch die herrlichen „Vor-der-Show“-Filme von Loïc Prigent anschauen, in denen das hektische Treiben in den Modeateliers innerhalb der letzten 30 Stunden vor der Show dokumentiert wird. Bei Jean Paul Gaultier sehen wir übermüdete Schneiderinnen, die um Mitternacht Pailletten auf Abendkleider sticken, bei Lanvin einen stimmungsschwankenden und entzückenden Alber Elbaz, der mit ungeheurer Liebe zum Detail ein traumhaftes Seidenkleid nach dem anderen bis zur absoluten Perfektion modifiziert, bei Isabel Marant eine unglaublich sympathische und bodenständige Chefdesignerin, die trotz böser Rückenschmerzen und Schlafdefizit immer noch mit größter Freude bei der Arbeit ist – kurz: wir sehen kreative Menschen, die ihr ganzes Herzblut in das Entwerfen exquisiter, kunstvoller Kleidung stecken, Kleidung, die dazu bestimmt ist, uns ein ganz besonderes Gefühl zu vermitteln und unsere eigene Persönlichkeit hervorzuheben. Darum geht es eben bei der „wahren“ Modekunst: um die Persönlichkeit und Individualität der Trägerin, die es zu unterstreichen gilt.
Kann man aber angesichts der enormen Reizüberflutung, die uns überfällt, sobald wir eine H&M-Filiale betreten oder eine InStyle-Trendcollage betrachten, noch von Individualität und Persönlichkeit sprechen? Und: habe ich, als kleine deutsche Modebloggerin, überhaupt das Recht, über Alber Elbaz‘ Lanvin-Kollektion zu urteilen, wenn ich sie bloß im Livestream auf meinem Computerbildschirm erlebt habe? Auch das ist eine dieser Schandtaten der heutigen, so sehr vom digitalen Zeitalter beeinflussten Modewelt: theoretisch kann jeder Dorfdepp über Kleidungsstücke schreiben und urteilen, die er lediglich in zweidimensionaler Form auf dem heimischen Computerbildschirm gesehen hat – nachdem er sich bereits durch die riesige style.com-Datenbank geklickt und angesichts der immensen Vielfalt der heute präsentierten Modekollektionen ohnehin wahrscheinlich komplett den Überblick verloren hat.
Ich fasse mir dabei auch an die eigene Nase: wie oft habe ich hier über die ach-so-unspektakulären Kollektionen einiger der besten Modeschöpfer des Planeten gewettert, ohne auch nur einen einzigen detaillierten Blick auf die einzelnen Kleidungsstücke und Accessoires geworfen zu haben. Einziges – und vermeintlich ausreichendes – Beweismaterial bot die Saisonübersicht großer Modeplattformen (wie z.B. style.com). Nach kurzer Sichtung der dort beschriebenen Shows war ich stets der Meinung, bestens über die jeweiligen Entwürfe der Designer informiert zu sein und darüber urteilen zu dürfen. Dass man den wahren Prozess, die Kreativität und die beeindruckende Handarbeit, die hinter jedem einzelnen Lanvin-Kleid oder Proenza-Schouler-Mantel steckt, aber nur in ihrer ganzen Pracht erkennen kann, wenn man tatsächlich bei der Show zugegen war oder gar im Showroom die Kleidung befühlen durfte, wurde mir eben durch die Loïc-Prigent-Filme, die einen sehr intensiven Einblick in die leidenschaftliche Arbeit der Designer ermöglichen, bewusst. Und so demokratisch die Modewelt heute sein mag: im Grunde habe ich doch kein Recht dazu, über etwas zu berichten, dass ich gar nicht real erlebt habe. Denn dadurch nehme ich der Mode nicht nur ihre Authentizität, sondern auch ihre Persönlichkeit.
Doch selbst diejenigen Damen, die nun das große Privileg genießen dürfen, bei den ganz großen Shows der Branche in der ersten Reihe zu sitzen, begegnen der Arbeit der Modeschöpfer nicht immer mit dem angemessenen Respekt. Der in New York ansässige Designer Thakoon Panichgul beklagte sich einst über diesen Umstand folgendermaßen: „Da näht man monatelang an den Sachen, gibt sich alle Mühe und ist erst zufrieden, wenn auch das letzte Detail stimmt. Dann präsentiert man seine Entwürfe zum ersten Mal vor Publikum und stellt fest: Die gucken ja gar nicht richtig hin. Die tuscheln viel lieber mit ihrem Sitznachbarn. Ganz ehrlich, das ärgert mich maßlos. Und ich finde auch, das macht man nicht.“
Wenn ich heute eine Modenschau besuche (was in der Tat nicht häufig vorkommt!), dann freue ich mich darüber wie ein kleines Kind zu Weihnachten, denn für mich gibt es nichts Spannenderes, als Mode wirklich hautnah erleben zu dürfen. Für die Chefredakteurinnen und Stylisten der großen Modejournale ist der Besuch einer Show hingegen vermutlich längst zur Routine geworden, und da ein Termin nach dem anderen drängt, muss es ein Ding der Unmöglichkeit sein, jedem einzelnen Entwurf jedes einzelnen Designers mit dem Respekt, den dieser eigentlich verdient hat, zu begegnen. Wie könnte man diesem tristen Umstand aber entgegen wirken? Das Problem liegt im Grunde in dem knapp bemessenen Zeitplan der Modewochen in London, New York, Mailand, Paris und Berlin. Innerhalb weniger Stunden wird eine Show nach der anderen abgeklappert und anschließend darüber, so zeitnah wie möglich natürlich, berichtet. Nicht nur die Designer, auch die Journalisten stehen demnach unter einem immensen Zeitdruck. Warum? Warum muss sich das Modekarussell immer schneller drehen? Liegt dies vielleicht, um zu meinem Ausgangsgedanken zurück zu kommen, wieder an der Demokratisierung der Modewelt, daran, dass jeder heute mitmachen darf, überall Modeunternehmen aus dem Boden sprießen, und diese Branche dadurch immer unübersichtlicher und anstrengender gemacht haben? Über 350 verschiedene Labels sind mit ihren Kollektionen in der Fall 2012 Ready-to-wear-Kategorie bei style.com aufgelistet. Wer soll da einen konzentrierten Überblick behalten?
Wir werden diesen Beschleunigungsprozess, die immer rasendere Rotation des Modekarussells wohl kaum aufhalten können, auch wenn dies sicherlich im Interesse der Modeschöpfer selbst wäre. Ein Wandel hin zur Demokratie lässt sich in unserer Gesellschaft (glücklicherweise!) schwerlich umkehren, und auch die Modewelt wird nichts mehr an ihrer einstigen elitären Exklusivität zurückgewinnen, sobald sie einmal für jedermann zugänglich gewesen ist.
Ich bin keine Moderevolutionärin, die die in dieser glamourösen, rasanten Branche herrschenden Zustände umstürzen will. Aber ich liebe die Mode, und ich möchte versuchen, sie so respektvoll wie möglich zu schätzen. Was man dafür tun kann?
1) Die Massenmodeindustrie nach Möglichkeit meiden, vor allem dann, wenn sie sich dreist und ungeniert der Entwürfe von wahren Modeschöpfern bedient. Auch ich bin kein Engel und kaufe hin und wieder mal bei Topshop oder Monki ein. Ebenso gerne erweise ich den kreativen Designer meine Ehre und erwerbe ein feines, zeitloses Stück von höchster Qualität und ganz eigener Persönlichkeit. Die Investition in EINE Proenza-Schouler-Bluse lohnt sich garantiert mehr als in FÜNF ZARA-Polyesterkleidchen. Weniger ist mehr.
2) Lieber eine Modenschau als sieben hintereinander besuchen. Ist man mit weiteren Kollegen für ein Blog oder ein Magazin tätig, kann man sich die Arbeit durchaus teilen. Nicht jeder muss jede Show sehen, auch wenn sie noch so glamourös sein mag.
3) GLAMOUR und InStyle ins Altpapier befördern und lieber mal einige Euro mehr für ein feines POP Magazine oder die VOGUE ausgeben – dort finden sich herrlichste Editorials, die einzelne Kleidungsstücke angemessen in Szene setzen, und Interviews mit interessanten Modeschöpfern, die einen tiefsinnigen Einblick in deren Arbeit ermöglichen.
Ist die Modewelt also noch zu retten? Ich würde sagen: wenn wir sie nicht weiter so banal betrachten wie die monatliche Stromrechnung, dann schon schon. Mode soll demokratisch sein, wir alle haben ein Recht darauf – aber an Exklusivität darf sie ebenso niemals verlieren.