Sonnenbrillen im Winter?

DARF MAN DAS?

Letzten Freitagabend habe ich ungefähr 30 Gläser Wein getrunken, ich weiß auch nicht mehr genau, wie es so weit kommen konnte. Normalerweise trinke ich wenig, deshalb finde ich diese historische Anzahl an Weingläsern schon erwähnenswert. Wahrscheinlich lag es am gratis zugänglichen Alkohol, alle zwei Minuten kam ein Kellner mit Sternentattoo auf beiden Ohrläppchen an meinem halbvollen Kelch vorbei, fragte „Mehr?“, ich sagte „Nein danke“, und er goss nach.

Als ich zuhause ankam – ich erinnere mich dunkel, den Heimweg mit geschlossenen Augen zurückgelegt zu haben – beschloss ich, nie wieder Alkohol zu trinken. Am nächsten Tag sah ich aus wie ein gesteinigtes Pferd, und da war ich doch sehr froh über meinen letzten Kauf, eine neue Sonnenbrille. Draußen war es irgendwie kalt, die Sonne schien nicht, der Himmel war grau, und vereinzelt fiel mal ein Regentropfen runter. Durch die Sonnenbrille sah alles schlammbraun aus, aber ich behielt sie trotzdem auf. Meine Katerspaziergangsbegleitung fand das irgendwie albern, sie sagte es nicht laut, aber sogar durch die dunklen Gläser konnte ich genau sehen, wie bekloppt sie mich bei grauem Februarhimmel mit meiner Sonnenbrille fand. Darf man im Winter keine Sonnenbrillen tragen?

Neulich haben wir hier ja schon über nackte Beine bei Minusgraden diskutiert, die Sonnenbrillen-Frage fällt streng genommen in den gleichen Bereich: Mode soll nicht in Verkleidung ausarten, stilsicher auftreten bedeutet dem Anlass entsprechend gekleidet sein. Wenn es schneit, warum sollte man dann ohne Strumpfhose rausgehen? Wenn die Sonne nicht scheint, warum sollte man dann eine Brille aufsetzen, deren Sinn und Zweck darin besteht, die Augen vor der Sonne zu schützen? Ich spanne ja auch nicht meinen Regenschirm auf, obwohl es nicht regnet. Aber Moment: was, wenn es ein besonders schöner neuer Regenschirm ist? Wie zweckfrei darf Mode sein, wenn sie doch ohnehin nur zu unserem Vergnügen existiert?

Wahrscheinlich liegt das Geheimnis der Sonnenbrille darin, dass sie tatsächlich weit mehr Zwecke erfüllt, als ihr Name impliziert. Ich jedenfalls habe schon immer, unabhängig von Witterungsbedingungen, eine besondere Freude an Sonnenbrillen gehabt. Es gibt einfach zu viele herrliche Modelle, tatsächlich wäre es doch viel zu schade, die alle bloß bei Sonne zu tragen. Zudem setzt man sich mit der Sonnenbrille auch ein bestimmtes Lebensgefühl auf. Die dunklen Gläser sind viel mehr als bloßer Lichtschutz: weil man dadurch alles und jeden in Ruhe beobachten kann, selbst aber zumindest teilweise maskiert ist, darf man sich damit stark und unbesiegbar vorkommen, denn ich sehe dich, aber du siehst nicht mich. Die Sonnenbrille ist das Hilfsinstrument zum perfekten Pokerface. Und mit kaum einem anderen Accessoire lassen sich so viele Bilder assoziieren: der Star, der inkognito bleiben will, trägt Sonnenbrille; der Gangster, der die Bank ausrauben will, trägt Sonnenbrille; Holly Golightly, die die Nacht durchgefeiert hat, trägt Sonnenbrille; der Geheimagent, der den Staatsfeind beschattet, trägt Sonnenbrille; Karl Lagerfeld, das Genie, trägt Sonnenbrille.  „Die Sonnenbrille ist mein mobiler Lidschatten“, hat er einmal erklärt, „durch sie sieht alles ein bisschen jünger und schöner aus.“ Wir sehen: die Sonnenbrille trägt ihren Namen zu Unrecht, sie müsste Inkognitobrille, Gangsterbrille, Katerbrille, Geheimagenten-, Jugend- oder Schönheitsbrille heißen.

Die Sonnenbrille verleiht Stärkegefühl in unterschiedlichsten Stimmungslagen
Clairette, jeweils links unten im Bild, Sonnenbrillenfan seit 1994

Und trotzdem: sobald die Sonne hinter den Wolken verschwindet und man weiterhin seine getönten Gläser auf der Nase trägt, muss man sich auf der Stelle schuldig fühlen – die Sonnenbrille als modisches Accessoire ist nämlich noch lange nicht gesellschaftlich akzeptiert. Mit dem Stärkegefühl, das sie uns verleiht, wird wohl auch diese spezielle Arroganz der Undurchschaubaren mitgeliefert, die gerade in Deutschland besonders unbeliebt ist und einzig dann geduldet wird, solange die Sonnenbrille an ihren rein praktischen Zweck gebunden ist. Sobald die Sonne weg ist, ist der Sonnenbrillenträger der peinliche Idiot, der sich mit dem Gestell auf der Nase mal bloß nicht zu cool vorkommen soll.

Ist das nicht traurig? Ich habe gerade im Winter ständig das Bedürfnis, eine Sonnenbrille zu tragen, nicht nur, wenn ich am Vorabend 30 Gläser Wein getrunken habe. Und auch nicht deshalb, weil ich mich damit verkleiden oder meinen Mitbürgern meine Gangstermentalität unter die Nase reiben will. An manchen Tagen habe ich einfach keine Lust, der Welt meine Augen zu zeigen. Für Bad-Hair-Days gibt es Mützen, warum sollten an Bad-Mood-Days nicht auch Sonnenbrillen erlaubt sein? Durch die Sonnenbrille erscheint die Welt immer ein bisschen gebräunter als ohne. Wenn man sich durch getönte Gläser selbst im Spiegel betrachtet, wirkt auch die eigene Haut gleich ein wenig frischer. Und weil die Sonnenbrille das einzige Sommerkleidungsstück ist, dass man auch im Winter tragen kann, ohne sich eine Lungenentzündung zu holen, ist sie tatsächlich nichts weiter als Sommer zum Anziehen. Wenn das mal kein Argument ist.

1. Bild: Sonnenbrille von Han Kjøbenhavn, Lederjacke von Acne, Rollkragenpullover von Comptoir des Cotonniers
Viel zu schön für die Schublade: die Sonnenbrille von Prada ist auch etwas für kalte Tage