Musikrubrik #35: One Man Show

FRISCHES KLANGMATERIAL FÜR EINZELTÄNZER UND ANDERE VERRÜCKTE

Vorhin saß ich am See im Central Park und las die New York Times. Die Sonne stand tief über den gold gefärbten Laubbäumen, auf dem Wasser dümpelten kleine ferngesteuerte Segelboote, aus der Ferne schallte spanische Gitarrenmusik herüber. New York ist gar nicht so anstrengend, wie alle sagen – solange man nur gelegentlich mal Broadway und 5th Avenue meidet und sich zu den Vögeln in den Park gesellt. Ich hatte mich gerade auf Seite 16 zum Thema ISIS warmgelesen, als sich plötzlich ein Schatten über das Zeitungspapier schob. Vor mir stand ein burmesischer Mönch im orangefarbenen Gewand. Wortlos griff er nach meinem Handgelenk, zog mir ein Armband aus billigen Holzperlen über und drückte mir eine goldene Vignette mit der Abbildung eines blumengeschmückten Buddha in die Hand. Dann hielt er mir einen Schreibblock mit birmanischen Schriftzeichen unter die Nase.

„Twenty Dollar!“ sagte er und lächelte gewinnend. Ich wusste gar nicht, dass gutes Karma neuerdings käuflich zu erwerben ist. Und wozu der Schreibblock? Um mir eine Quittung auszustellen? „I don’t have cash with me“, sagte ich bedauernd – das stimmte wirklich, ich habe nie Bargeld dabei. Mönch schüttelte missbilligend den Kopf, zog mir das Armband vom Handgelenk, strafte mich mit einem strengen Blick und zog von dannen. Wahrscheinlich werde ich jetzt als Mistkäfer wiedergeboren. Habe ich nicht erzählt, dass einem in New York jeden Tag was Verrücktes passiert? Das war zum Beispiel solch ein Moment.

Ein tolles Territorium zur Entdeckung New Yorker Eigenarten ist auch die Subway. Manchmal sieht man dort Dinge, die man lieber nicht gesehen hätte. Manchmal erlebt man aber auch ganz wunderbare Sachen, zum Beispiel jüngst bei meiner Fahrt von der West 4th Street nach Williamsburg: neben mir stand ein kleiner Mann mit Kopfhörern und rappte in bemerkenswerter Lautstärke den Text seiner Ohrenmusik mit. Die Subway war rappelvoll, kleiner Mann rappte leidenschaftlich weiter, auch gar nicht übel, Jay-Z wäre vielleicht hellhörig geworden. Ansonsten interessierte sich kein Mensch für den singenden Mitbürger, jeder ging seiner aktuellen U-Bahn-Beschäftigung nach – New York Magazine lesen oder selbst Musikhören oder die schöne Sitznachbarin anstarren oder was man halt so macht, wenn man mit einem Laien-Rapper durch New York braust. Aber warum denn nicht wirklich einfach mal mitsingen, wenn man gerade sein Lieblingslied hört? Was spricht eigentlich dagegen? Wieso habe ich das selbst noch nie versucht? Achtung, Berliner S-Bahnfahrer, wenn ich wiederkomme, wird gesungen, und zwar laut.

Oder neulich, an der Subway-Station Union Square. Dort geht es ein bisschen zu wie am Bahnhof Zoo, jeder macht, was er will. Schon beim Aussteigen aus der U-Bahn hörte ich aus nicht weiter Ferne grelle Elektro-Bässe herüber tönen. Am oberen Ende der Treppe, mitten in der schönsten Saunahitze dieser besonders schlecht klimatisierten New Yorker U-Bahnstation, tanzte in seliger Heiterkeit ein dunkelhäutiger Mann, oder eine dunkelhäutige Frau, kann mir jemand helfen, ich weiß nicht, wie ich mich an dieser Stelle korrekt ausdrücken soll, jedenfalls war der Mensch beides von beiden Geschlechtern, aber das ist nicht der Punkt dieser Anekdote – viel wichtiger war nämlich der Anblick der dargebotenen, völlig versunkenen Tanzeinlage zu Robyns „Dancing on my own“. Noch dazu hatte der/die Tanzakrobat/in fast gar nichts an – nur ein enges schwarzes T-Shirt und einen raspelkurzen schwarzen Minirock, aus dem hinterrücks ganz keck ein String mit Leopardenprint hervorspähte. Der Ghettoblaster schepperte, viele Leute blieben stehen und sahen zu, auch ich natürlich, denn ich lasse mir in dieser Stadt vom 25-Dollar-Drink auf irgendeiner fancy Dachterrasse bis zu absurden Tanzdarbietungen in überhitzten U-Bahnschächten wirklich nichts entgehen.

Der Anblick dieser ekstatisch hüpfenden Figur war aber auch einfach zu herrlich. Und damit auch mein Tag um ein weiteres Highlight und ich selbst um die Erkenntnis reicher, wie viele Menschen in New York doch einfach das tun, worauf sie gerade Lust haben – anderen Leuten im Park spirituelle Armbänder für 20 Dollar andrehen, inbrünstig vor sich hin rappend U-Bahn fahren, halbnackt durch die Subway-Station tanzen. Und wenn alle Welt, die schon mal in New York war, sagt, diese Stadt sei so inspirierend, dann wird sie wohl genau diese Spontaneität meinen, die hier an jedem einzelnen Tag mit einem neuen brillanten Erlebnis überrascht. In diesem Sinne  gibt es in der heutigen Musikrubrik passendes Klangmaterial – dynamische Töne, zu denen es sich hervorragend durch diese und andere verrückte Städte flanieren lässt. Und zu denen man durchaus auch mal spontan mitsingen oder an der nächsten Straßenkreuzung das Tanzbein schwingen kann, wenn es einen gerade so schön in den Schenkeln juckt.

Die C’EST CLAIRETTE Musikrubrik kann man auch auf Spotify hören: