Wir hier bei C’est Clairette hegen ja eine besondere Vorliebe für geschmacklose Dinge. Geschmack ist halt langweilig, das kann man an den auf „Freunde von Freunden“ vorgestellten Wohnungen sehr gut erkennen. In diesen Berliner Altbauzimmern herrscht zu viel guter Geschmack. Ein Perlenvorhang hier, ein Plüschklodeckel da könnte als Statement mal nicht schaden, finde ich. Aber gut, die Berliner kaufen ihre Möbel eben gern bei Hay. Da ist alles pastellfarben oder grau, es gibt tolle Übertöpfe für die aktuell sehr modische Kaktuspflanze, außerdem ist vieles retro-inspiriert. Sowas gefällt den Leuten.
Letzten Sonntag war ich auf dem Flohmarkt am Arkonaplatz, da war richtig was los – lauter Menschen auf der Suche nach Geschmack, der sich neuerdings eben über all das definiert, was nach kuratierter Kultiviertheit aussieht. Bauhausregale, 50er-Jahre-Küchentische, Eames Plastic Arm Chairs, schwarze Industrielampen. Matthias Stolz hat diese Leute, zu denen ich mich als Besitzerin eines Vitra-Stuhls korrekterweise leider auch selbst zählen muss, vor einer Weile in einem großartigen Artikel im ZEITmagazin sehr treffend als „Besserbürger“ bezeichnet. Das Problem am Besserbürger: er ist ein Rudeltier. Besserbürger halten sich für was Besonderes, aber wenn alle besonders sein wollen, ist es keiner mehr. Aktuell äußern sich die gemeinschaftlichen Vorlieben des Besserbürgertums in der strengen Auswahl puristischer Besitztümer.
Mit der Geschmacklosigkeit ist nämlich der Protz ausgestorben. Seitdem wir alle Geschmack haben, wohnen wir in weiß möblierten Wohnungen mit schwarz-weißen Kissenbezügen und polierten Eichenkommoden und sorgsam platzierten Bildern an der Wand, die natürlich rein zufällig gehängt aussehen müssen; dazwischen stehen pastellfarbene Kartons (von Hay) und kupferne Körbe für unsere gesammelten VOGUE-Editionen. Alles ist so aufgeräumt und glatt rasiert und schön reinlich gehalten. Modernes Biedermeier haben Soziologen und Journalisten das Phänomen dieses minimalistischen Lebensstils getauft. Und der beschränkt sich nicht nur auf den Wohnraum: welcher Großstadtmensch besitzt heute noch ein glänzend lackiertes Auto und cruist darin mit hängendem Arm und dröhnendem Hiphop durch die Straßen? Alle fahren Fahrrad oder betreiben Carsharing. Das ist toll und modern und bestimmt gut für die Umwelt. Aber es hat den guten alten Protz leider sehr ins Abseits gedrängt. Und an dieser Stelle kommen wir endlich zum eigentlichen Thema dieses Artikels: der Karre mit Flügeltüren.
Das geflügelte Auto ist die Krönung der Protzigkeit, der unverhohlenen Dekadenz und damit in Zeiten höflich-geschmackvoller Reduktion von besonders exotischem Glanz. „Ein Auto wie ein Raumschiff“ beschrieb Sebastian Viehmann den berühmten Flügeltürer C111 von Mercedes-Benz hier ganz treffend, ein Gefährt wie aus Krieg der Sterne. Klappen die Türen nach oben hin auf, sieht die Karre aus wie geflügelt. Man kann sich darin oberhalb des alltäglichen Durchschnitts bewegen. Es ist ein Auto wie gemacht für ein Musikvideo von Bruno Mars: aufdringlich, überheblich, unangepasst, laut. Der goldene Kronleuchter unter den Alltagsgegenständen. Reinster Pop. Pop gefällt einem Besserbürger nicht. Während er seinen Kaktus wässert und sich in Aesop parfümiert, hört er alte Schallplatten oder melancholischen Elektro von SOHN. Bloß keinen Trash. Pop und Protz sind in dieser Understatement-Welt nicht erwünscht.
Dabei ist die vermeintliche Geschmacklosigkeit doch tatsächlich absolut notwendig. Sie ist das Gegenteil von massenverträglicher Stilsicherheit und knallt all jenen, die es sich zwischen ihren Zimmerpflanzen und Eames-Möbeln und Car-2-go-Accounts so richtig bequem gemacht haben, endlich wieder eine kleine Herausforderung vor die Nase. Es darf nicht immer so gestriegelt zugehen. Das haben die wahren Kenner unter uns, jene Leute, deren Wohnung nicht wie eine Pinterest-Pinnwand aussieht, natürlich längst verstanden: zum Beispiel Veronika Heilbrunner und Justin O’Shea. Das Glamour-Paar der Stunde ist ein wandelndes Statement. Veronika hat zuhause ein Sofa mit Raubkatzenprint stehen und trägt am liebsten dicke Turnschuhe zu Spitzen-Couture. Justin läuft auch mal im Tankstellenshirt zur Anzughose herum. Zusammen sind die beiden cooler als jedes Bankräuberduett. Und in dem neuesten Kurzfilm von Mercedes-Benz fahren sie in einem – na, was wohl – Mercedes C111 in Müllmannorange durch Westberlin. Großartig.
![]() |
| © Sandra Semburg |
![]() |
| via |
Ich möchte mich heute für mehr Autos mit Flügeltüren aussprechen. Ich bin keine gute Autofahrerin und ich habe auch nicht so wirklich Ahnung von Autos (was ist ein Zylinder?), aber ich verstehe die Funktion dieses Klassikers der Protzigkeit als Statement gegen das Understatement. Deshalb darf mein Plädoyer für mehr Flügelautos gern auch metaphorisch verstanden werden: ich bin nicht nur für mehr geflügelte Karren, sondern auch für mehr Kronleuchter. Für mehr Perlenvorhänge, mehr Pilotenbrillen, mehr rosa Sakkos, mehr Plüschklodeckel, mehr Leopardensofas. Für mehr Protz und weniger Geschmack.




Also für mehr Geschmack und weniger Geschmacklosigkeit – gern auch mit jener gesunden Portion Prunk und Protz!
Etwas altmodisch außerdem, wenn eine Einzelunternehmer-Redaktion im Plural schreibt. Gehört das zur neuen Protzigkeit 😉
Liebe Grüße
Philipp
A propos, Claire, Dein "Was ist ein Zylinder?"-Kommentar ist so großartig, dass ich Dir ehrlich gesagt die Nichtahnung nur schwerlich abkaufe: Der Wagen hat keine.
Trotzdem hat mich dieser Artikel stutzig gemacht. Warst du es nicht, die sich in dem besagten Vitra Stuhl vor einigen Jahren in der Redaktion C'est Clairette (aka Berlin-Mitte-Szene-Altbau-Bude) präsentiert hat? Im Hintergrund das obligatorische Latetita Casta by Lagerfeld Foto des hippen Berliner "Besserbürgers"?
Womit cremst du dir das Gesicht ein, wenn nicht AESOP oder pure Argan Oil?
Auch wenn ich dir in allem zustimme und mich heute ebenfalls für mehr Autos mit Flügeltüren ausspreche – provoziert mich dein Artikel stark, da ich mir den Rest deine Wohnung nur schwer mit Plüschklodeckel und Leo-Sofa vorstellen kann.
Was war deine Intention diesen Artikel zu schreiben? Möchtest du in Zukunft umdekorieren?
Na klar gehöre ich dazu! Selbstkritik ist die größte Inspiration. Ich habe von mir und meinen Mitbesserbürgern gesprochen. Und ja, ich plane tatsächlich umzudekorieren – in Kürze mehr dazu.
ich bin nun doch sehr neugierig – wie wirst du die "neue Protzigkeit" für dich umsetzen?
Ich habe mich jedoch gefragt warum du von Protzigkeit sprichst. Ist Protzigkeit nicht die Zurschaustellung von nacktem Reichtum? Ein bisschen so wie Kanye West und seine seltsame Angetraute? Für mich ist das Wort automatisch verbunden mit dem Stereotyp des sogenannten "Neureichen". Und irgendwie haftet dem Wort auch ein bisschen der Geruch der Angst an. Protz wie Trotz. "Seht her, ich bin reich und gehöre dazu." Mag das wirklich jemand? Dagegen finde ich, das die von dir vorgestellten Personen eher verwegen sind. Sie benutzen dann sorgsam dosiert die Insignien der Prolligkeit (die ja auch protzig sein kann:) um dem Ausdruck zu verleihen. Das Auto, eine Couch im Animalprint – irgendwie 80er und die sind für mich die Geburtsstunde des Prolls.
Kannst du bei Gelegenheit Herrn O´Shea mal fragen ob er rein zufällig so aussieht wie Viggo Mortensen in "eastern promises" – inklusive der "Sterne" als Tattoo? Das würde mich interessieren.
C.
Iris