Jawbreaker und Kamelrudel

KULTUR-PSYCHOLOGISCHE ANALYSE DER MODEKAMPAGNEN 2015

Gelegentlich bedauere ich es doch, einer Generation anzugehören, die das Fernsehen aufgegeben hat. Ich schaue nie fern. Das bedeutet nicht, dass ich stattdessen Nietzsche lesen, Beethoven hören oder komplizierte Gerichte aus dem Feinschmecker kochen würde. Wir Zwanzigjährigen sind nicht kultivierter geworden, bloß weil wir nicht mehr in die Röhre starren. Stattdessen gammeln wir in der virtuellen Welt. Facebook ist das neue RTL. Meine Großmutter findet das sehr traurig: jedes Mal, wenn ich mit ihr telefoniere, macht sie mich auf Formate wie „Das Waisenhaus für wilde Tiere“ aufmerksam, die ich auf keinen Fall verpassen dürfte. Ich mache mir nichts aus Tiersendungen oder Afrika-Reportagen. Was mir beim Verlust des Fernsehens in meinem Alltag viel eher fehlt, sind die Werbepausen. Denn Werbung ist nicht blöd, sondern ein Abbild unserer kulturellen und gesellschaftlichen Identität.

Zeig mir was Du kaufst, und ich sage Dir, wer Du bist: anders als bei künstlerischen Fotoproduktionen hat eine Werbeanzeige die explizite Funktion, dem Betrachter etwas zu verkaufen, was sein Leben entschieden besser machen wird. Almette Alpenfrischkäse wird in ländlicher Idylle aufgetischt, da, wo die Luft noch rein und das Gras noch grün ist. Den Leuten in dieser Landschaft geht es gut, und zu diesem Wohlgefühl trägt Almette Alpenfrischkäse entscheidend bei. Besser, man isst auch Almette Alpenfrischkäse.
Der Mann im Autowerbespot fährt mit seinem Audi Q5 natürlich nicht durch die Fußgängerzone von Gelsenkirchen, sondern entlang der Garden Route in Südafrika, wo logischerweise auch immer die Sonne scheint. Der Audi-Fahrer ist ein Mensch von Welt, ein Gewinnertyp, stets auf der Sonnenseite des Lebens unterwegs. Beim Anblick seiner rasanten Kurvenfahrt wollen wir auf der Stelle auch Audifahrer sein.

Ähnlich läuft es in der Modewelt, einer Branche, die wie kaum eine andere Industrie mit Schein und Illusion spielt. „Dieses Blatt besteht doch nur aus Reklame“, sagen meine nicht-modeinteressierten Freunde immer, wenn sie durch die neue Vogue-Ausgabe blättern. Aber Modewerbung ist nicht bloß glossy Idealismus. Die neue Prada-Anzeige sagt mir, welche Frau ich in dieser Saison sein will.

Grund genug, einen analytischen Blick auf die Labelkampagnen der Saison zu werfen. Was wollen die Modehäuser hier welcher Art von Kundin verkaufen? Natürlich darf man sich auch von der schönen bunten Modewelt nicht alles aufschwatzen lassen, ohne vorher zweimal drüber nachzudenken. Und selbst wenn es Miu Miu gelingt, dass ich nun aus heiterem Himmel diese geheimnisvoll-verträumte Frau sein will, die in Mini-Tweedtop mit Blumengürtel und Putzfrauen-Pantoletten in ihrer mystisch illuminierten Zweizimmerwohnung Stühle umwirft, ist es doch interessant zu sehen, woher dieser Impuls nun kommt. Bitte sehr: hier kommt die Psychoanalyse der Modeanzeigen 2015.

Miu Miu: Der Baum und die Frau

Jung, wild und schön: so zeigt sich das Bäumchen links im Bild. Es wächst auf der ostsibirischen Insel Olkhon, am Baikalsee gelegen. Auf Olkhon steht die Welt still: Taiga, Steppe, Wüste und Wasser, so weit das Auge reicht.Wie das Bäumchen in dieser mystischen Natur ist die Frau von Miu Miu. Sie trägt alle Farben und Texturen der Kleiderschranklandschaft: Blau, Kupfer, Weiß, Türkis, Leder, Seide, Häkelwolle. Sie ist frei, sie ist wild, sie ist schön, sie macht Urlaub in Russland, sie braucht keine Haarbürste und besitzt kein Smartphone. Wer wollte nicht diese Frau sein.

Jimmy Choo: Jawbreaker

Bei der aktuellen Jimmy-Choo-Kampagne haben wir es mit einer klaren Bezugnahme auf die US-amerikanische Teenager-Satire Jawbreaker – Der zuckersüße Tod zu tun. Hier sehen wir das Double von Kurzhaarblondine Marcie, eine der drei Kofferraum-Mörderinnen, beim prüfenden Blick unter die Heckklappe. Daraus lesen wir zweierlei: die einstige Jawbreaker-Zuschauerin ist heute in dem Alter, in dem sie sich endlich ein Paar Killer-Heels von Jimmy Choo leisten kann. Dabei erinnert sie sich gern an ihre Jugend, als sie davon träumte, eine berühmt-betörende Gangsterin mit eigenem Fluchtwagen und genug Stauraum für Leichen und Luxuseinkäufe zu werden. Die Jimmy-Choo-Frau ist gefährlich. Sie betrachtet sich als emanzipiert, dabei sollte man sich als Frau vor ihr in Acht nehmen. Wahrscheinlich sticht sie möglichen Konkurrentinnen bei der Jagd auf das letzte verbleibende Paar High Heels in Schuhgröße 39 lieber ein Messer in den Rücken, als sich mit ihnen anzufreunden.

Louis Vuitton: Auf dem Gipfel

Reich, intellektuell und original glamourös: die Louis-Vuitton-Frau ist die Katharina die Große der Postmoderne. Sie wohnt in einem verglasten Loft in Midtown, ausgestattet mit handgesticktem Artdeco-Teppich und französischem Barockthron, schwarz vertäfelten Wänden und einem Gemälde von George Condo überm Bett. Ihr Badezimmer ist efeugrün gekachelt. Neben der Toilette stapeln sich die neuesten Ausstellungskataloge aus dem Guggenheim. Und trotz roter Lacklederstiefel und 3000-€-Handtasche im Schrank weiß sie: mit Klasse wird man geboren. Eleganz kann man nicht kaufen.

 Balmain: Die schon wieder

Dass Kim Kardashian und Kanye West für Balmain werben, sagt vor allem eines über die Kundin des Hauses aus: Diese Frau nervt. Mit allen Mitteln kämpft sie darum, im Gespräch zu bleiben. Sie ist das Gegenteil von authentisch, nämlich eine überdrehte Tussi mit falschen Wimpern. Und sie hat natürlich einen Freund. So einen, den sie auf jede Girls-Only-Geburtstagsparty mitschleppt und mitten drin, zwischen Hauptgang und Dessert, leidenschaftlich mit ihm rumzumachen beginnt. Ihre Knutschflecken präsentiert sie wie das Bundesverdienstkreuz. Sie trägt irgendwas sehr Transparentes, sehr Kurzes und sehr Figurbetontes, ihr Freund was mit V-Ausschnitt. Als stilvoller Mensch möchte man mit diesen beiden nicht beim Abendessen gesehen werden. Lieber betrachtet man sie aus sicherer Entfernung und genießt die Unterhaltung.

Prada: Madame Tête-en-l’air

Wo zum Teufel habe ich jetzt noch mal meine Handtasche abgestellt? Eben hatte ich sie doch noch…was ziehe ich heute an? Chaos im Kleiderschrank, ich müsste echt mal aufräumen…hui, im Blumenstrauß auf dem Nachttisch hängt eine Unterhose. Wie ist die denn da hin gekommen? Hihi. Jetzt erstmal schminken. Vorher lege ich aber noch eine Schallplatte auf. Edith Piaf! Padam, padam…was habe ich jetzt mit meinem Kleid gemacht?! Merde. Ach ja, da liegt’s im Waschbecken. Und da ist ja auch die Handtasche! Ich könnte auch mal wieder das Bad putzen…obwohl, so ein staubiger Spiegel hat doch was Nostalgisches. Und mit der Rose daneben…Hilfe! 9 Uhr! Schon so spät! Ich wollte doch um halb 8 zum Sport gehen! Na egal. Je m’en fous. 
So oder so ähnlich denkt die Prada-Frau: romantisch, impulsiv, querfeldein. Aber selbst mit ungekämmten Haaren, zerfransten Säumen am Hemd und nur einem Schuh an den Füßen ist diese Frau stark, sinnlich und von selbstbewusster Grazie. Wie sie ihr Leben lebt, lässt sie sich von keiner Uhr und keinem Terminkalender vorschreiben.

 Ralph Lauren: Mein Kamelrudel und ich

Diese Frau lebt auf großem Fuß. Sie begegnet besonderen Lebenssituationen, wie etwa der Zusammenkunft mit einer Legion von Kamelen, gern in passender, sprich dramatischer Garderobe. Von der Attitüde her ist sie eng mit der Balmain-Frau verwandt – bloß weniger trashig und mit mehr Fönfrisur. Die Ralph-Lauren-Frau macht Urlaub in Abu Dhabi, hat ein Haus mit marmorvertäfelter Eingangshalle und Säulen vor der Tür, und ihr Wohnzimmer ist mit allerlei sehr teuren, sehr goldenen Antiquitäten eingerichtet, die ihre Dekorateurin angeschleppt hat. Mit anderen Worten: die Ralph-Lauren-Frau ist eine extravagante Materialistin mit angekauftem Stil.

 Sonia Rykiel: für erwachsene Mädchen

Sonia Rykiel kleidet erwachsene Mädchen ein, keine mädchenhaften Frauen. Die Party ist für diese leichtfüßigen Jungspundinnen, die immer als letzte zur Sause erscheinen und dann aber so richtig für Stimmung sorgen, nie vorbei. Ausgegangen wird täglich, wobei die Auswahl des besten Festes, das in genau dem richtigen Maße glamourös und skandalös sein muss, streng kuratiert wird. Die Sonia-Rykiel-Mädchen sind waschechte It-Girls. Sie sind es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Schon als Kinder haben sie sich gerne in Mamis Kleiderschrank vergraben und High Heels, Hüte und Handtaschen anprobiert.

 Dolce & Gabbana: Mamma Italia

Im Zentrum dieser Kampagne stehen keine streichholzdünnen Supermodels, sondern drei sizilianische Mamas in katholisch schwarzen Hemdkleidern. Schauen wir genau hin: ein bisschen verlegen sind sie schon, so mitten im Rampenlicht. Und dabei freuen sie sich doch. In ihren Gesichtern hat die Schönheit der einstigen Jugend noch deutliche Spuren hinterlassen. Alle drei tragen Kartons mit schwarz gekleideten Barbies in der Hand. Deutlicher könnte man den Unterschied zwischen echten Frauen und gesichtslosen Puppen nicht betonen. Und das Mädchen rechts im Bild, mit Blumen im Haar und transparentem Spitzenrock, wird eines Tages auch so eine Mamma Italia werden. Der Jüngling mit Gitarre und Supermodel Maria-Carla sind dabei nur schmückendes Beiwerk. Im Mittelpunkt steht mit den Frauen, die den Stolz, die Tradition und Lebensfreude einer ganzen Nation versinnbildlichen, das wahrscheinlich schönste Produkt Italiens.
 

 Givenchy: Das ist mein Motorrad – und nein, Du darfst nicht mitfahren

Glaub‘ ja nicht, dass Dich dieses Mädchen auf ihrer Maschine mitnimmt. Breitbeinig wie ein Junge hat sie auf dem Fahrzeugsitz Platz genommen. Plötzlich hat das lederne Bondage-Nieten-Outfit von Givenchy gar nichts mehr von Rotlichtmilieu, sondern eher von modischer Rotzigkeit. So viel steht fest: mit diesem Mädchen, das hier so bockig die Vorderlippe vorschiebt, ist nicht gut Kirschen essen. Dafür aber gut Pferde stehlen. Mit der richtigen Einstellung kann man solche Jungsaktivitäten schließlich auch in High Heels unternehmen. Die Givenchy-Frau ist der Räuber Hotzenplotz der Modewelt.

 Kate Spade: die Wohlstandsbürgerin

Charlotte York aus Sex and the City würde sich in dieser Kate-Spade-Kampagne sehr wohl fühlen. Erstmal spielt die Geschichte auf der Upper East Side, mitten im schönen grünen Central Park. Alle haben sich versammelt, Omi, Onkel, Tochter, Handtasche, Schnecke, Frosch und die putzigen kleinen Zwillinge, die logischerweise rote Haare haben. Alle haben was Tolles zu tun, die Dame in Grün liest die New York Times, Omi Iris und Tochter Karlie unterhalten sich über verschiedene Zubereitungsmethoden von Schwarzwälder Kirschtorte, Onkel trinkt Kaffee und guckt versonnen. Es ist ein Bild für’s Familienalbum – allerdings mit ein paar Fehlern. Wozu braucht der Mann eine Handtasche mit Blumen? Was sagt Omi wohl zur Frisur der Zeitungsleserin? Was macht der Frosch im Buggy? Wächst eine Handtasche, wenn man sie gießt? Und was tut Karlie eigentlich auf einer Parkbank? Die verbringt ihre Freizeit doch stets im Fitnessstudio! Wir sehen: auch im Leben von traditionellen Wohlstandsbürgern kann es lustig werden. Die Frau, die in dieser Welt lebt, ist in Trendfragen vielleicht nicht unbedingt auf der Höhe der Zeit (hallo! Upper East Side ist so Neunziger!), aber gerade das macht sie hundertmal interessanter als jede Schaufensterscheibe in SoHo. 

Max Mara: Cruella gärtnert 

Im ersten Moment meint man, es hier mit der Hundemörderin Cruella aus 101 Dalmatiner zu tun zu haben. Die Analogie zur Bösartigkeit der gemeinen Diva ist aber ein Irrtum, wie ein genauerer Blick auf den Print ihres Outfits beweist: statt Dalmatinerfellpünktchen wachsen dort kleine Streublumen. Die Max-Mara-Frau ist eine liebenswürdige und sehr aufgeräumte Person. Sie hat bestimmt einen Schrebergarten. Und es gefällt ihr, wenn Schuhe, Hut und Handtasche zur Wandtapete passen.

Valentino: Nicht ohne meine Gang

Die Valentino-Frau macht nichts ohne ihre Freundinnen: auf’s Klo gehen, in den Urlaub fahren, Pilates am Strand. Mit Männern gibt sie sich in ihrer Freizeit nur in Ausnahmefällen ab. Hauptsache, der Vibe mit den Ladies stimmt. In so einer Girlgang kann man aber auch herrlich viel Blödsinn unternehmen: sich gegenseitig im Sand eingraben, in Seidenkleidern ins Meer springen, Bäume umarmen, sich zu fünft in Form eines Seesterns ausbreiten – kurzum: den natürlichen Bedürfnissen eines jungen Fohlens nachgehen. Die Valentino-Frau ist die Königin der Kampangnen-Models 2015. Sie hat verstanden, was wahre Emanzipation bedeutet: mit anderen Frauen zusammenzuhalten. Nicht gegeneinander zu arbeiten. Schöne Grüße an die Jimmy-Choo-Kollegin.