Smalltalk, zuckerfrei

WIESO REDEN WIR NUR NOCH DARÜBER, WAS WIR NICHT MEHR ESSEN?

Bildschirmfoto 2015-12-29 um 2.12.36 PMEs gab in diesem Jahr genug Themen, über die man sich überhalten konnte. Charlie Hebdo. Pegida. ISIS. Franz Beckenbauer. Flüchtlinge. VW. Justin Bieber. Donald Trump. Die Welt ist reich an Smalltalkstoff, man muss sich beim Abendessen wahrlich nicht langweilen oder über das Wetter plaudern, damit die Zeit schneller rumgeht. Aber tatsächlich scheint es, als sei es vielen Leuten mittlerweile doch zu heikel geworden, nach dem zweiten Glas Rotwein noch die Themen Obergrenze oder Datenschutz anzuschneiden. Lieber spricht man über sich selbst, das ist schön unverfänglich, und gibt nebenher noch gute Ratschläge, was vor allem das eigene Wohlbefinden steigert.

Ich habe in diesem Jahr an vielen Abendessen teilgenommen, und wohin ich kam, immer saß neben mir ein Mensch, dem es irgendwie besser zu gehen schien als mir, jedenfalls behauptete er das. „Neuerdings gurgle ich jeden Morgen mit Kokosöl“, erzählte mir Freundin S., „ich merke richtig, wie das Öl meinen Hals- und Rachenraum reinigt.“ Und fügte, nachdem sie mich hatte husten und die Nase putzen lassen, hinzu: „Ich war in diesem Winter noch kein Mal krank!“ Das klänge interessant, sagte ich, um irgendwas zu sagen, wie lange sie denn morgens dieses Kokosöl (wie kann man Öl gurgeln?) in ihrem Rachenraum hin und her schwenke? „Ach, so 15 bis 20 Minuten.“ Sie sagte es beiläufig, ohne belehrenden Unterton, aber mit solcher Überzeugung, dass ich mich angegriffen fühlte. Später an diesem Abend stand ich vor dem Badezimmerspiegel, begutachtete meinen Rachen und fragte mich, ob ich dieses Kokosölgegurgel wohl auch mal ausprobieren solle, obwohl mir der Gedanke, morgens 15 Minuten ölgurgelnd unter der Dusche zu stehen, in etwa so reizvoll erschien wie ein Stück Seife zu verspeisen.

Schlimmer war es bei einem Abendessen einige Monate zuvor, mitten im schönsten Frühsommer, beim Italiener. Es gab Bruschetta mit Tomaten, Grissini mit Schinken, Pasta mit Trüffeln, Pasta mit Wildschwein. Mir gegenüber saß eine Frau, die ich nicht kannte, und dozierte über den Übeltäter Weizenmehl. „Der menschliche Organismus ist für den Verzehr von Kohlenhydraten nicht gemacht“, wusste sie, „das habe ich in einem Buch gelesen.“ In was für einem Buch, fragte ich, als Arzttochter darauf konditioniert, keiner Studie zu glauben, die nicht von mindestens acht verschiedenen Universitätsklinikumdoktoren für repräsentativ erklärt wurde. Den Namen des Buches habe ich gleich wieder vergessen, nicht aber die Überzeugung dieser Frau, dieser Überzeugungstäterin, die mir an diesem Abend mit ihrem unerschütterlichen Glauben an diverse irreversible Schäden, die ich mir mit dem Verzehr köstlicher, herzerwärmender Kohlenhydrate zufügen würde, den Appetit auf Pasta mit Trüffeln verdarb.

Man kann heute kaum noch mit Leuten an einem Tisch sitzen, ohne am Ende der Mahlzeit gründlich am eigenen Wohlbefinden zu zweifeln. Gut gelaunt, heiter und hungrig, so hat man sich gefühlt, als man das Restaurant betrat. Gut gelaunt, heiter, satt und beschwipst hätte man es gerne wieder verlassen, aber weil man der einzige Mensch am Tisch war, der sich am Brotkorb bediente, weil man als einzige Frau am Tisch Steak Frites bestellte, während die anderen Damen Salatblätter von Croutons trennten und dabei erzählten, wie toll und frisch sie sich fühlten, seitdem sie keinen (gar keinen??) Zucker mehr äßen, geht man am Ende mit dem mulmigen Gefühl nach Hause, seine Lebensführung grundlegend überdenken zu müssen.

Von meiner Großmutter habe ich gelernt, dass man beim Essen nicht über Essen spricht. Heute müsste man diese Anstandsregel neu formulieren, denn die Leute sprechen beim Essen nicht mehr darüber, was sie gerne essen, sondern darüber, was sie gerne nicht mehr essen. Diese Art, mit der sie einem durch den Gemüse-Tofu-Teller weißmachen wollen, an der morgendlichen Müdigkeit, der gelegentlichen Trägheit, den einstweiligen Magenschmerzen, die jeder Mensch wohl mal kennt, sei man selbst Schuld, solange man noch nicht auf Mandelmilch und Quinoa umgestiegen sei, hat etwas massiv Übergriffiges an sich. Ich habe auch so meine Angewohnheiten, die mein Wohlergehen steigern sollen. Wenn mich der Ehrgeiz packt, mache ich zwanzig Liegestütze. Ich renne gerne morgens durch den Park, ich trinke den guten Kaffee zum Frühstück, ich kaufe kein Billigfleisch, ich wasche mir das Gesicht mit libanesischem Rosenwasser. Aber ich halte es für unnötig, meine Mitmenschen ungefragt darüber zu informieren (außer hier und jetzt, sorry!).

Mag sein, dass die Welt zu unübersichtlich, die Generation Y zu planlos, die Politik zu undurchschaubar, der Terrorismus zu unberechenbar und die Meinungen im Land zu gespalten sind, als dass man darüber noch lockerleichten Smalltalk führen könnte. Aber dass es heute Leute gibt, die bereitwillig über den Unterschied zwischen Zöliakie und Weizenmehlsensibilität referieren und ihren Mitmenschen beim Abendessen erklären, wie man selbst Mandelmilch zubereitet, aber selbst noch nie von Beate Zschäpe gehört haben – das ist ein Problem. Das muss aufhören.

Header-Foto: Tommy Ton (Collage: C’est Clairette)