Flug verpasst

ZUM TROST GAB'S EIN GLAS WHISKEY IM DUTY-FREE SHOP

img_5125Ich hatte noch nie einen Flug verpasst und war mir ziemlich sicher, dass es auch so bleiben würde, dass ich einer von diesen Menschen wäre, denen so was Dummes einfach nicht passiert. Mit leisem Spott hatte ich immer die schlecht organisierten Pechvögel in meinem Bekanntenkreis bemitleidet, die es ständig versäumten, pünktlich zum Flughafen zu fahren. Aber das Leben sollte mich an diesem Freitag eines Besseren belehren, nämlich, und das schreibe ich mir jetzt hinter die Ohren, dass es tatsächlich irgendwann jeden erwischt. So wie der Tod niemanden verschont, verschont niemanden die Sicht auf ein gerade aus dem Gate rollendes Flugzeug. Das ist das einzig Gute an solchen Extremsituationen: man gewinnt aus ihnen immer neue Erkenntnisse.

Freitagmittag, die Stadt war überhitzt und verstopft, deshalb beschloss ich, mit dem Regionalzug zum Flughafen Schönefeld zu fahren, jenem Schandfleck der deutschen Hauptstadt, auf den wahrscheinlich jeder Inder, Sudanese und Brasilianer mit Schadenfreude schaut, weil kein Chaosstaat auf der Welt eine so geschmacksbefreite Schrottlaube von einem Flughafen in seiner Hauptstadt stehen hat. Irgendwo in der Nähe rottet der neue Flughafen BER vor sich hin, und irgendwie könnte dieser ganze Baukrimi ja durchaus was von einer Tragikomödie haben, wenn der deutsche Staat einfach mal zu seiner Unfähigkeit stehen und einräumen würde, dass er versagt hat. Aber darin sind die Deutschen nicht so gut.

Auch der Deutschen Bahn mangelt es an Talent zur Selbstkritik. An diesem Tag sollte sie mich zum Flughafen fahren, ein für ein Bahnunternehmen eigentlich nicht so anspruchsvoller Auftrag. War aber offenbar schwieriger als gedacht, für den wegen Bauarbeiten außer Dienst gestellten Regionalzug einen tauglichen Ersatz herbei zu schaffen. Schaffnerin, entgeistert: „Haben Sie nicht die Aushänge gesehen?“ „Nee, sorry.“ „Das ist Ihr Problem. Fahren Sie mit der S-Bahn nach Lichtenberg, dort wartet ein Ersatz-Airport-Express auf Sie. Aber wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: beim nächsten Mal sollten Sie früher losfahren.“ Klar, dass man, wenn die Deutsche Bahn im Spiel ist, immer selbst Schuld ist. Kleiner Hinweis vorweg: in Lichtenberg wartete kein Ersatz-Airport-Express. Kleine Lektion hinterher: das hätte ich mir schon vorher denken können.

Bis zum Flughafen waren es jetzt noch 19 Kilometer, bis zum Boarding 15 Minuten. Auf meinen Keilabsätzen sauste ich durch den Lichtenberger Bahnhof, auf der Suche nach einem Ersatz-Express, einem Taxi, einem Wunder, irgendwas. Der Ersatz-Express kam nicht und ein Taxi, erklärte man mir am Telefon, werde bei aktueller Verkehrslage mindestens 45 Minuten nach Schönefeld brauchen. Nur an das Wunder wurde ich nicht müde zu glauben.

Mit der S-Bahn fuhr ich zurück zum Bahnhof Ostkreuz, von wo aus der nächste, natürlich verspätete Zug mit Endstation Schönefeld in 17 Minuten abfahren sollte. Ich rannte durch den Bahnhof und suchte den Ausgang, vielleicht gäbe es ja hier doch irgendwo ein rasantes Wundertaxi. Aber irgendwie hat der Bahnhof Ostkreuz keinen Ausgang. Spontan änderte ich meinen Plan – fuhr hier nicht auch ein Regionalzug nach Schönefeld? Fünf Treppen später stand ich auf einem zuglosen Gleis. „Wo ist denn hier der Regionalzug?“, fragte ich einen extrem genervt aussehenden DB-Mann. „Also hier schon mal nicht!“ keifte er, ich schreckte zurück, rannte die 5 Treppen zurück und stieg in die irgendwann eintreffende S-Bahn nach Schönefeld. Neben der Tür saß ein Mann im Rollstuhl, der nur noch aus Haut und Fleisch und Schweiß zu bestehen schien und mir fürchterlich leid tat, wobei sein Anblick und Geruch in diesem Moment das letzte waren, was ich gebrauchen konnte. Ich weiß, das man so etwas nicht denken oder sagen soll, aber so war es leider.

Fünf Minuten vor Abflug kam ich am Flughafen an, das Wasser lief mir aus Haaren und Kniekehlen, noch dazu trug ich ein Oberteil mit neongelbem Plisseecape, das allein schon Alarm genug gewesen wäre, wäre da nicht mein panisches Gesicht gewesen, das alle Leute in meinem Umkreis bestürzt ausweichen ließ. Das einzig Schöne war die Feststellung, das mir mein Aussehen schon lange nicht mehr so egal gewesen war wie an diesem Tag. Ich war bereit, bis zur letzten Sekunde zu kämpfen, notfalls noch dem Bodenpersonal im Angesicht des bereits rollenden Flugzeugs eine dramatische Geschichte von meiner Urgroßmutter aufzutischen, die im Flieger säße, aber ohne mich nicht fliegen dürfe, weil ich ihre lebensnotwendigen Medikamente dabei habe.

Keuchend stürzte ich in die Flughafenhalle, stieß alle Leute beiseite, drängte mich durch die Sicherheitskontrolle, rannte die Treppe rauf – fucking Schönefeld hat nicht mal Rolltreppen! – und da war es, endlich, endgültig: das rot aufleuchtende Gate Closed neben der Nummer meines Fluges, der jetzt nicht mehr meiner war. Weil das geschlossene Gate nicht angezeigt wurde, wusste ich nicht, wo ich hinrennen sollte. Also blieb ich vor dem Duty-Free-Shop stehen und fing an zu weinen – ja, ich weiß, total übertrieben. Andere Leute ertrinken im Mittelmeer, ich hatte meinen Flug verpasst. Andererseits kann man nichts für seine Gefühle. Flug verpasst – jetzt war es mir endlich passiert. Immerhin konnte ich das Thema vorerst von meiner Liste „gruseliger Dinge, die mir im Leben noch passieren werden“ streichen.

Dann passierte etwas Merkwürdiges: auf dem Weg zurück zur Abflughalle, wo ich mir einen neuen Flug zu buchen und außerdem den nächsten aufzutreibenden Mitarbeiter der Deutschen Bahn zur Schnecke zu machen gedachte, wurde ich von zwei Damen in Duty-Free-Shop-Uniformen aufgehalten. „Wat is denn mit Ihnen passiert?“, fragte die eine und dabei schaute sie so freundlich, dass ich spontan wieder anfing zu weinen – wie ein sechsjähriges Kind, das sich in der Schule das Knie aufschlägt und das Weinen tapfer bis zu dem Moment aufschiebt, in dem es seine Mutter sieht. Während mir die zweite auf den Rücken klopfte, reichte mir die erste ein Glas Whiskey. „Dit beruhigt“ erklärte sie und achtete darauf, dass ich das Glas auch wirklich leer trank. Danach ging es mir wirklich besser. „Jetzt gehen Sie sich ma frisch machen“, sagte die zweite, „und dann trinken wa noch einen zusammen.“ Eine halbe Stunde später stand ich wieder an der Sicherheitskontrolle. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragte der Sicherheitsbeamte. „Ich habe meinen Flug verpasst“, sagte ich. „Das tut mir leid“, sagte er und schien es wirklich ernst zu meinen. „Danke. Dafür habe ich oben im Duty-Free einen Whiskey bekommen.“ „Den könnten wir hier unten auch mal gebrauchen.“

Vier Stunden am Flughafen Berlin-Schönefeld, und plötzlich wusste ich so viel mehr über Deutschland: dass die gelobte deutsche Effizienz ein nicht mal identitätsstiftendes Märchen ist. Dass in Deutschland kaum weniger improvisiert wird als anderswo, was allein die merkwürdige Aneinanderreihung von Parfümerie, Burger King und Irish Pub mit Teppichboden am Schönefelder Flughafen beweist, noch dazu dekoriert mit WELT-Kompakt-Plakaten von 2004, die mit den Köpfen von Johannes Paul II. und George W. Bush für Aktualität werben. Und dass der einzige Grund, warum einem Deutschland trotz dieser herrlichen Unordnung immer noch unsympathischer ist als Italien, die Tatsache ist, dass es sich seine offensichtliche Unperfektheit einfach nicht eingestehen will.

Was für Deutschlands Institutionen gilt, betrifft aber längst nicht Deutschlands Menschen – auch das war eine Erkenntnis dieses Nachmittags. Vielleicht ist es ja gerade der deutsche Beamtenstarrsinn, die Überheblichkeit des DB-Kundenservice, die uneingestandene Unfähigkeit der Flughafengesellschaft, die den Leuten, die darunter leiden, viel mehr Humor, Spontanität und Herzlichkeit verliehen hat, als man ihnen zutrauen würde. So schauen wir Deutschen auf unser Land: mit Selbstironie, Spott und heimlicher Zuneigung. Das macht uns zu viel netteren Menschen, als ich immer dachte. Es war an diesem Tag nicht der perfekt ausgestattete, glatt gewienerte Brüsseler Flughafen, der meine Laune hob, als ich endlich dort ankam. Es waren die Damen im Ostberliner Duty-Free.