Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kleiderschränke Charaktere abbilden können. Meine Garderobe ist eine Art psychologisches Gutachten über meine Person. Allerdings ist das alles komplizierter, als man denkt. Denn so einfach wie „Ah, viele graue Pullover, also ein stilles Wasser“ ist die Schrankanalyse nicht gestrickt, was wohl daran liegt, dass fast niemand einen eindeutigen Kleidungsstil hat, ebenso wie ja auch jeder Charakter aus unlogischen Widersprüchen besteht.
Wer in meinen Schrank späht, findet dort ziemlich viele feiertaugliche Sachen. Zum Beispiel: einen pink-weiß gekachelten Rock aus Tüll. Eine zeltweite Seidenhose mit Krawattenprint. Eine bis zum Becken geschlitzte Seidenrobe mit Rückenausschnitt. Ein hochgeschlossenes, ärmelloses Leonard-Kleid mit Blumenprint. Ich besitze auch nur genau ein Paar Sneaker, dafür mehrere Paar nadelspitzer High Heels mit Federn, Blumenstickerei und Sternenstaub. Neuerdings bin ich im Besitz einer Netzstrumpfhose. Wer in meinen Schrank schaut, würde mich für ein total aufgedrehtes, vielleicht sogar verruchtes Partygirl halten, das jedes Wochenende die Nächte durchfeiert. Dabei wissen mittlerweile sogar Leute, denen ich nie begegnet bin, dass ich das Nächtedurchfeiern vor einigen Jahren eingestellt habe. Und verrucht? Puh. Nichts weniger als das. Wozu also der Tüll und das ganze rückenfreie Zeug?
Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich meinen Stil ja selbst überhaupt nicht verstehe, was mich schon mal zu der besorgniserregenden Annahme geführt hat, gar keinen Stil zu haben. Muss das dann auch bedeuten, dass ich keinen Charakter habe? Zumindest kenne ich meinen Charakter nicht. Ich kann nur vermuten, was mein Kleiderschrank über die Tiefen meines Charakters weiß, die mir mein Unterbewusstsein vorenthält. Wer weiß, vielleicht würde ich insgeheim total gerne mal wieder eine Nacht durchfeiern? Wie sonst kam ich auf die Idee, diese verrückte bunte Fellstola zu kaufen? Ich meine, sowas kann man doch nicht zum Zahnart anziehen. Oder doch?
Vielleicht taugt mein Kleiderschrank auch zu einer ganz anderen Diagnose: nämlich, dass mich der mangelnde Glamour der „Partystadt Berlin“ und die Tatsache, dass Ausgehen hier gar keinen Spaß macht, solange man kein spanischer Tourist mit 2 Promille im Blut ist, derart frustriert, dass ich mir die glamouröse Abendbekleidung einfach aus Trotz für tagsüber kaufe. Tiefe U-Bahnschächte hin oder her: ich komme in High Heels! Auch die Uniform der zugezogenen Kreativen (Schwarz mit Schwarz und dazu ein bisschen Schwarz) verlangt nach Protest: ich reagiere mit pinkfarbenem Tüll. Dafür brauche ich keine Party, ich trage ihn von mir aus gerne im Supermarkt, und ja, auch in der rasant geschlitzten Seidenrobe war ich tatsächlich schon im Büro. Zwar mit dicker Strumpfhose und riesigem Pullover, aber trotzdem!
Die Protesttheorie gefällt mir gut, sie lässt sich vielseitig weiterspinnen: meine Zuneigung zu glamouröser, im Alltag eher unangemessener Kleidung ist mit Sicherheit auch eine Trotzreaktion auf den Entschleunigungswahn meiner Mitbürger. Alle wollen neuerdings „öfter mal Nein sagen“, dafür mehr „auf die innere Stimme hören“, die nach Rückzug verlangt. Außerdem investieren sie in Sofakissen, Wolldecken, Bio-Tee und Yogamatten, denn sie mögen es gern bequem, und da ist so ein Paar High Heels echt nicht zu gebrauchen. Aber hört mal, ich habe keine Lust zu entschleunigen! Ich will keine Wolldecken kaufen oder ein Sofa, ich kaufe mir lieber eine Leopardenhandtasche und marschiere damit durch Berlin, als sei ich auf dem Weg in eine New Yorker Wolkenkratzerbar. Bin ich zwar nicht, aber es geht hier ums Feeling, meine Damen und Herren. Was dieses erhebende, belebende, euphorisierende, in Zeiten wie diesen hoffnungsstiftende Feeling betrifft, ist auf meinen Kleiderschrank echt Verlass.
Alle Bilder: Sandra Semburg
Vinyljacke mit Fellkragen von Charlotte Simone, Jeans von Raey, Netzstrumpfhose von Wolford
Mantel von Caroline Kummelstedt, Sneakers von Converse
Fellstola von Charlotte Simone, Seidenhose von Thakoon, T-Shirt von Uniqlo, Loafers von Fratelli Rossetti, Vintage-Ohrringe von Versace
Karierte Jacke von A.W.A.K.E., Seidenschal von Duro Olowu, geschlitzte Jeans von SJYP, High Heels von Charlotte Olympia, Netzstrumpfhose von Wolford