Manchmal sehe ich sie noch: knöchelhoch, honigbraun, zwei fellgefütterte Klumpen, die aussehen, als hätte man sie auf die Beine gespießt wie Frikadellen. Ich weiß gar nicht, ob man Ugg Boots überhaupt noch trägt, in Berlin sind sie jedenfalls kein Mode-Statement. Aber jedes Mal, wenn ich ein Paar davon sehe, denke ich an jenen verregneten Wintertag im Jahr 2008 zurück, als ich meine Mutter anflehte, mir diese Schuhe zu kaufen. Ugg Boots gab es bei Gundlach in Hamburg, einem legendären Schuhgeschäft, in dem sich die reiche, stylische Eppendorferin allsaisonal mit frischen Fellstiefeln eindeckt. Wir waren vom anderen Ende der Stadt angereist, und ich träumte davon, eine stylische Eppendorferin zu werden. Oder wie die Mädchen an meiner Schule, die, sofern die Eltern das nötige Kleingeld locker machen konnten, alle den gleichen Look pflegten: Woolrich-Parka, Skinny-Jeans, Ugg Boots. Was hätte ich damals dafür gegeben, so auszusehen.
Auf keinen Fall, sagte meine Mutter. Stell dir vor, es regnet! Die Schuhe seien unpraktisch, wie sollten sie das Hamburger Wetter überstehen? Außerdem, zweihundert Euro! Du spinnst wohl. Ein paar Monate später lief gefühlt halb Hamburg in Ugg Boots rum, nur ich hatte kein Paar abbekommen. Mein Vater erbarmte sich, noch einmal mit mir in einem Schuhgeschäft danach zu fragen, vielleicht könnte man ja einen Deal aushandeln (ein Paar Ugg Boots gegen 20 Mal Rasenmähen). Aber die Schuhgeschäfte waren leergefegt. Keine Ugg Boots mehr.
Manchmal frage ich mich heute, was aus mir geworden wäre, wenn mir meine Eltern diese Stiefel tatsächlich gekauft hätten. 200-Euro-Schuhe sind kein Klacks, jedenfalls nicht für eine 14-Jährige. Die glücklichen Ugg-Boots-Halterinnen an meiner Schule gingen mit ihren Luxusstiefeln um wie ich mit meiner Brotdose. Im Jahrgang unter mir gab es eine Mädchen-Gang, in der alle einen Freund hatten, bevor ich meinen ersten Kuss absolviert hatte. Sie rauchten Kette, trugen tief ausgeschnittene Tops unterm Woolrich-Parka und schlurften in ihren Ugg Boots durch die Gegend. Schlurfen ging gut in diesen Schuhen, man konnte damit den ziemlich coolen Eindruck erwecken, als sei einem bis auf seine Fußtemperatur alles egal. Ich glaube, es war nicht nur der Preis, der meine Eltern abschreckte, sondern auch diese Attitüde.
Ich fing an, die Ugg-Boots-Mädchen an meiner Schule leise zu hassen. Aus Neid, natürlich. Aber meine Ablehnung brachte auch eine beruhigende Erkenntnis mit sich: was waren das für Langweilerinnen, die alle in den gleichen Schuhe herumlaufen mussten? Es war das erste Mal, dass ich feststellte, dass es gar nicht so schlecht war, etwas, dass alle hatten, nicht zu haben. Als meine Eltern die Ugg-Boots-Diskussion endgültig für beendet erklärten, fing ich an, mich nach Alternativen umzusehen. In der InStyle hatte ich ein Bild von Kate Moss in karamellfarbenen Fransenstiefeln gesichtet. An meiner Schule waren Minnetonkas noch ein Fremdwort. Nur ein Mädchen aus der Oberstufe, deren Mutter bei Jil Sander arbeitete und sich auszukennen schien, trug sie. Ich kaufte ein Paar auf eBay. Sie waren zu groß, und nach ein paar Wochen ließ ich einen Filzstift fallen, der einen schwarzen Punkt auf dem Wildleder hinterließ. Aber ich liebte sie.
An der Schule nannten sie mich fortan „die Squaw“. Ich kombinierte schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt zu den Stiefeln und fand in einem Vintage-Geschäft eine knielange Kaschmirstrickjacke, die perfekt dazu passte. Wahrscheinlich sah ich unmöglich aus, aber ich war stolz auf dieses Outfit, das ich mir selbst ausgedacht hatte. Die Strickjacke war auch mein erster Vintage-Kauf – danach ging ich in den Second-Hand-Boutiquen der Stadt ein und aus. Das waren gigantische Fundgruben, in denen man auf total abgefahrene Ideen kommen konnte: eine gelbe Krokodilledertasche! Hellblaue Plateausandalen! Ein lila Tweedblazer!
Dank der Ugg Boots, die ich nie bekam, fing ich an, mir einen eigenen Look zuzulegen. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Zu Weihnachten bekam ich eine Nähmaschine geschenkt. Das war so typisch für meine Eltern: schon als Kind ließen sie mich das Barbiehaus, das ich mir sehnlichst wünschte, lieber selbst bauen. Die Nähmaschine kostete fast so viel wie ein Paar Ugg Boots. In den Augen meiner Eltern war das eine aber eine Investition in meine Talentförderung, das andere träge machender Überfluss.Und so bahnte ich mir den Weg aus der selbstverschuldeten modischen Unmündigkeit. Langsam entwickelte ich so etwas wie Stil. Bis heute ist er alles andere als perfekt, ich mache immer noch Fehler, trage die falschen Schuhe zum falschen Kleid, kaufe eine Hose, die nicht richtig sitzt, solche Sachen. Aber ich kaufe keine Kleidung mehr, von der ich hoffe, darin jemand zu werden, der gar nicht ich bin. Natürlich ärgere ich mich immer noch oft, mir dieses und jenes nicht leisten zu können. In manchen Momenten glaubt man ja, ein ganz bestimmtes Paar Schuhe, das leider 400€ kostet (im Sale!), wäre die fehlende Kirsche auf der Torte, und danach hätte man nie wieder Kleidersorgen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Je mehr man kauft, desto fantasieloser wird man. Das Phänomen lässt sich unter den prominenten Modebloggerinnen feststellen, die Klamotten hinterhergeworfen bekommen wie Rockstars Drogen: die Originalität sinkt mit dem wachsenden Gratisklamottenberg. Stil ist auch eine Kunst des Weglassens.
Wer weiß, wie ich heute aussehen würde, wenn ich mit 14 Jahren ein Paar Ugg Boots bekommen hätte? Wäre ich eine von den anderen geworden? Hätte ich mir tierisch was auf diese Schuhe eingebildet, und darüber vergessen, was Besonderes aus mir zu machen?
Jetzt, kurz vor Weihnachten, wo wir uns alle Sachen wünschen, die wir eigentlich nicht brauchen, und im Sale Klamotten kaufen, die uns gar nicht stehen, ist das eine gute Erinnerung: etwas nicht zu bekommen, macht kreativ. Letztes Jahr kam ich auf die verrückte Idee, mir von meinen Eltern ein Paar Gucci-Sandaletten zu Weihnachten zu wünschen. Natürlich bekam ich sie nicht. Sie fehlen mir nicht.
Bilder: Tommy Ton (1), Mode Majeure (2), Nabile Quenum für The Cut (3), Garance Doré (4), Vanessa Jackman (5)