Das verlorene Kleid

SECHS FRAUEN ERZÄHLEN VON IHREN GRÖSSTEN KLEIDERSCHRANKVERLUSTEN

bildschirmfoto-2016-12-22-um-11-35-47Als ich mein goldenes Geburtsarmband im See verlor, glaubte ich an eine Strafe Gottes. Ich hatte mich vorher lauthals  auf Französisch mit allerlei gemeinen Schimpfwörtern über die Leute lustig gemacht, die sich viel zu nah neben mein Handtuch am Seeufer gepflanzt hatten. Leider sprachen sie selbst Französisch. Auf dem Rückweg war mein Handgelenk kahl. Ich lief den ganzen Weg zurück zum See, die Augen auf den Boden geheftet. Mein Herz pochte, als würde ich verfolgt. Das Armband war weg. Ich heulte.

Manche Kleidungsstücke wachsen einem ans Herz wie Freunde. Meistens sind einem die am teuersten, denen man zufällig über den Weg lief. Das Armband war kein Modestatement. Ich hatte es zur Geburt bekommen, und viele Jahr später zufällig in einer alten Schmuckschatulle entdeckt.  Meine Mutter ließ es vergrößern, von da an trug ich es jeden Tag. Ich traute mich nicht, es abzunehmen, weil ich fürchtete, es dann zu verlegen. Als ich es schließlich verlor, fühlte es sich an, als sei ein Stück von mir abgebrochen.

So ist es oft: das T-Shirt, in dem man seit seinem vierzehnten Geburtstag schläft, die Bluse, die man mal zufällig bei H&M im Sale mitgenommen hat, die Jeans, die man von der Mutter vererbt bekam – das sind die Stücke, die uns häufig am nächsten stehen. Umso schlimmer, wenn sie verloren gehen. In diesen Kleidern wurde man vielleicht zu jemand Neuem, die Jeans machte einen zu Mamas cooler Junior-Version, die H&M-Bluse entpuppte sich als Alleskönner, Modefreunde fragten, ob das Balenciaga sei? Ich habe neulich so eine geliebte weiße H&M-Bluse mit einem grünen Kleid in die Waschmaschine gesteckt. Es war schrecklich. Ich rief mitten in der Nacht meine Mutter an, ob man da was machen könne? Meine Mutter empfahl einen Entfärber. Die Bluse blieb grün. Sie hatte nur 30 € gekostet, aber ihr Wert ließ sich nicht in Geld berechnen. Gute Freunde sind unbezahlbar.

Für diesen Artikel habe ich sechs spannende, toll angezogene Frauen nach den Geschichten hinter ihren verlorenen Kleidern gefragt. Die Anekdoten verraten nicht nur viel über die Protagonistinnen. Sie beweisen auch, dass es niemals „musthaves“ sind, die uns zu denen machen, die wir sind.

Amelie Kahl

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1) Gab es in Deinem Kleiderschrank mal ein heiß geliebtes Stück, das Du irgendwann verloren hast?

Allerdings: ein Marilyn-Manson-T-Shirt.

2) Was ist die Geschichte hinter diesem T-Shirt?

Es war ein Geschenk meiner zwei ältesten Freundinnen. Wir waren ungefähr 14 und selbsterklärte Punks mit Anarchie-Zeichen im Hausaufgabenheft und Konzertkarten-Sammlung an der Wand. Damals war Marilyn Manson mein Traummann (ja, ich weiß). Meine Freundinnen waren im Urlaub auf Corfu und haben mir dieses Shirt in Größe XL mitgenommen. Ich habe es abgöttisch geliebt und „runtergerockt“ (ich benutze diesen Begriff zum ersten Mal und fühle mich komisch dabei, deshalb die Anführungszeichen). Irgendwann mit den Jahren und dem Alter wurde das Shirt zu meinem Schlaf-Shirt – aber das ist wie mit gutem Wein. Es wurde mit jedem Jahr besser. Je brüchiger der Print, ausgeblichener das Schwarz, aufgelöster der Saum, desto wertvoller.

3) Was war das Besondere an diesem T-Shirt?

Neben der Tatsache, dass es ein Geschenk meiner Freundinnen war und dadurch automatisch etwas Besonderes für mich, hat das Shirt mich von einer Coolness umhüllt. Zumindest damals mit 14. In meinem Kopf. Ich habe es im Sommer am See getragen. Die Mädchen sind in Bikinis herum gesprungen (wie man das halt so macht im Sommer am See, nicht wahr) und ich saß in diesem riesigen XL Shirt im Schatten und dachte: „Fuck, Amelie, du bist so cool.“. Ich bin mir sicher, dass die anderen das nicht so wahrgenommen haben, aber das ist ja auch egal. So ein Selbstbewusstsein wie in diesem Moment hatte ich danach lange Zeit nicht mehr.

4) Wie hast Du es verloren?

Ich bin zweimal umgezogen – irgendwo auf dem Weg ist es verloren gegangen und nie wieder aufgetaucht. Es ist dramatisch. Ich denke überaus oft an dieses Shirt. Heute könnte ich es sogar wieder auf der Straße tragen á la Vetements. Vor zwei Jahren war ich wieder auf Corfu mit meinen Freundinnen und hätte mir fast ein Marilyn Manson Shirt gekauft – allerdings wäre das nicht mehr dasselbe. It’s over, aber die Trennung habe ich noch nicht überwunden.

Ich liebe meine Kleider und meine Garderobe. Die Auswahl an Stücken, die ich trage, ist stark gesunken und dadurch der Fokus auf die einzelnen Teile klarer. Ich hatte schon immer eine Faszination für Kleidung, die einem Selbstbewusstsein geben kann, in der man sich verstecken oder einfach nur man selbst sein kann. Man glaubt gar nicht, wie man sich in Kleidung fühlen kann, wenn man nicht blind einkauft – zum Beispiel „was für den Urlaub“ – sondern sich bewusst für ein Produkt entscheidet. Und trotzdem: Wenn ich etwas verliere, dann ist das ärgerlich, aber kein Weltuntergang. Mit Ausnahme des Marilyn-Manson-Shirts.

Amelie Kahl {@ameliekahl}ist Mitgründerin und Autorin des Blogs Amazed.

Rafaela Kaćunić

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Foto von Henrik Alm

1) Gab es in Deinem Kleiderschrank mal ein heiß geliebtes Stück, dass Du irgendwann verloren hast?

Es gab eine Hassliebe zu einem Turtleneck-Top aus Polyester, das ich zwischenzeitlich wohlmöglich sogar absichtlich verlegt hatte.

2) Was ist die Geschichte hinter diesem Top?

Ich werde nie vergessen, wie meine Mama voller Enthusiasmus in mein Kinderzimmer kam, um mir besagtes Turtleneck-Top zu schenken. Ich glaube, es war das erste und letzte Mal, dass sie mir (ohne besonderen Anlass) ein neues Kleidungsstück geschenkt hatte. Ich war frappiert und habe versucht, mein Entsetzen über die Auswahl des Printmotives zurückzuhalten. Ich bedankte mich und legte es, ohne es vorher anzuprobieren, in die dunkelste Ecke meines Kleiderschrankes. Nichtsdestotrotz überwog die Freude, dass sie an mich gedacht hatte und von dem Geschenk so überzeugt war.

3) Was war das Besondere an diesem Stück?

Es war irgendwie absurd, dass meine Bio-first Mama mir dieses sexy transparente Oberteil aus Polyester mit psychedelischem Rosenmuster und weißen Ziernähten geschenkt hatte. Da es aber eine emotionale Erinnerung bei mir hervorrief, wollte ich es weder verkaufen noch weiter verschenken (aber eben auch nicht tragen).

4) Wie hast Du es verloren?

Ich hatte das Teil so lange ignoriert, bis ich es durch meine vielen Umzüge (letzt)endlich verloren hatte. „Aus dem Auge – aus dem Sinn“ funktioniert bei mir normalerweise relativ gut, was materielle Sachen angeht. Doch diesmal setzte schlagartig das schlechte Gewissen ein und es wurde zu meinem Lieblingsteil, ohne dass ich es jemals zuvor getragen hatte. Plötzlich war ich traurig über den Verlust, und der psychedelische Rosenprint kam mir doch total großartig und überhaupt nicht kitschig vor. Ich setzte alles daran, das verloren gegangene Geschenk wieder zu finden. Heute benutze ich es für Styling-Zwecke und es gehört zu meinen liebsten Vintage-Teilen.

Rafaela Kaćunić {@la_raf} arbeitet als Art Direktorin, Bildberaterin und Model in Berlin, Paris und Split.

Brie Sara Welch

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Foto rechts: Sandra Semburg

1) Gab es in Deinem Kleiderschrank mal ein heiß geliebtes Stück, das Du irgendwann verloren hast?

Ja – ein wunderschönes, von Hand bemaltes Tuch von Miu Miu in Herzform, aus der Resort-Kollektion 2011.

2) Was ist die Geschichte hinter diesem Tuch?

Es war Liebe auf den ersten Laufstegblick. Zu dieser Zeit hatte Miu Miu gerade mit diesen fantastischen Drucken von nackten Frauen für Furore gesorgt. Ich kaufte das Tuch in der Boutique hier in Soho, New York, und pflegte es hingebungsvoll.

3) Was war das Besondere an diesem Tuch?

A) konnte ich es mir leisten und B) war es das perfekte i-Tüpfelchen für jeden Look. Ich weiß noch, wie ich es zur Fashion Night Out bei Barney’s trug und mir damit ganz besonders vorkam.

4) Wie hast Du es verloren?

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich das Tuch auch an genau diesem Abend verloren. Ich habe geheult. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass Kleidung mir nichts bedeutet. Aber einige Stücke bedeuten einem mehr als andere – entweder, weil man damit bestimmte Erinnerungen verbindet oder, weil sie von besonderer Schönheit sind.

Brie Sara Welch {@briesarawelch} arbeitet als Fashion Director bei Garance Doré

April von Stauffenberg

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Foto rechts: Julia Zierer

1) Gab es in Deinem Kleiderschrank mal ein heiß geliebtes Stück, das Du irgendwann verloren hast?

Eine hellblaue Jeansjacke, kurz und schmal geschnitten, mit einem Johnny-Hallyday-Bild auf dem Rücken.

2) Was ist die Geschichte hinter dieser Jacke?

Ich fand diese Jacke in Paris in einem stinkenden Second-Hand-Geschäft, irgendwo in der Nähe vom Centre Pompidou. Ob es Liebe auf den ersten Blick war? Natürlich! Ist das nicht bei all unseren Lieblingsstücken so? Es war das Jahr 1994, ich hatte gerade meinen College-Abschluss gemacht und traf meinen französisch-amerikanischen Freund in Paris, um mit ihm und seiner Familie Weihnachten zu feiern. Zu dieser Zeit wohnte ich in Prag und er in New York. Er lachte sich schlapp, als er sah, was ich an diesem Tag mit nach Hause brachte. „Du weißt schon, wer das ist, oder?“ fragte er mich. Natürlich wusste ich es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wer Johnny Hallyday war. Der französische Elvis! Ich hatte beim Kauf auch gar nicht richtig auf den Namen geachtet und „Johnny Holiday“ gelesen. Wenn es jemals einen passenden Doppelgänger für meine Person gäbe, dachte ich, dann wäre es definitiv jemand mit dem Namen Holiday.

3) Was war das Besondere an dieser Jacke?

Ich trug sie für den Rest des Monats, den wir zusammen verbrachten, unter einem pelzgefütterten sibirischen Mao-Mantel, den ich in einem Prager Second-Hand-Shop gefunden hatte. Dazu kombinierte ich einen langen schwarzen Rock mit Federsaum, den mir die Mutter meines Freundes zu Weihnachten geschenkt hatte. Mein Gott, was habe ich diese Jacke geliebt. Und wie sehr vermisse ich sie heute!

4) Wie hast Du sie verloren?

Das war ganz dramatisch. Es war Silvester und ich freute mich darauf, den Abend mit den französischen Freunden meines Freundes zu verbringen. Da meine Französischkenntnisse ziemlich bescheiden waren, beschloss ich, dass es nur eine Möglichkeit gab, mich an diesem Abend beliebt zu machen: ich würde jeden Gast an der Tür mit einem Shot Absinth begrüßen (der damals noch illegal war). Noch vor Mitternacht wurde ich ohnmächtig. Als ich aufwachte, löste sich die Party gerade auf und die Gesellschaft zog für ein paar Shots Café Calva – Espresso mit Cognac – weiter zur einer Bar. Ich war immer noch ein bisschen benebelt und achtete nicht auf die Jacken, die hinter mir an der Garderobe hingen. Meine Jacke wurde gestohlen. Das Lustige an der Sache war, dass ich damals ein großer Serge-Gainsbourg-Fan war, deshalb ärgerte ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht so sehr über den Verlost einer Jacke mit Hallyday-Druck hinten drauf. Wenn ich sie heute noch einmal selbst machen könnte, würde ich hinten ein Bild von Angela Merkel aufdrucken.

April von Stauffenberg {@aprilvonstauffenberg} ist Kunsthistorikerin und Journalistin. Sie ist Gründerin des Blogs How to be a unicorn und schreibt unter anderem für artforum.com und Weltkunst

Aino Laberenz

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Foto rechts: Marlene Sørensen

1) Gab es in Deinem Kleiderschrank mal ein heiß geliebtes Stück, dass Du irgendwann verloren hast?

Es gab mal ein finnisches, braun-weiß gestreiftes Schlafanzugoberteil, das ich sehr oft einfach als Oberteil trug. Ich glaube, es war ursprünglich von meinem Vater. In meiner Punk-/Grunge-Zeit habe ich das hoch und runter getragen.

2) Was ist die Geschichte hinter diesem Hemd?

Da ich in Finnland geboren wurde, war lange erstmal alles toll, was aus Finnland kam. So also auch dieser Baumwollschlafanzug von Marimekko – und dann auch noch gestreift. Streifen habe ich schon immer geliebt. Dann war er auch noch von meinem Vater und stammte aus den 70ern – die perfekte Kombi.

3) Was war das Besondere an diesem Hemd?

Das Teil war wirklich permanent im Einsatz. Ich war nicht extravagant in der Schulzeit, aber eigen. Und das Hemd war sehr gemütlich und schön zerschlissen.

4) Wie hast Du es verloren?

Wahrscheinlich wurde es einfach von meiner Mutter weggeschmissen. Ich vermisse dieses Hemd und denke sogar öfter daran! Vor allem auch deshalb, weil es von meinem Vater war. So war es für mich noch mehr als nur ein Kleidungsstück, nämlich eine Erinnerung an einen wichtigen Menschen.

Aino Laberenz {@ainokristina} arbeitet als Kostüm- und Bühnenbildnerin in Berlin

Wana Limar

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Foto von Kyra Sophie

1) Gab es in Deinem Kleiderschrank mal ein heiß geliebtes Stück, dass Du irgendwann verloren hast?

Nicht in meinem – aber in dem meiner Schwester. Es war eine Brosche, mit vielen glitzernden blauen Steinen. Ich hab sie auf dem Schulweg verloren.

2) Was ist die Geschichte hinter dieser Brosche?

Ich hatte in der 8. Klasse mal für etwa ein, zwei Jahre einen Broschentick. Jedes noch so gewöhnliche und unscheinbare Oberteil wurde fortan mit einer schicken, glitzernden und vor allem großen Brosche links oder rechts auf der Brust geschmückt. Die Broschen habe ich meistens auf Flohmärkte bei stylischen Omis gekauft oder von meiner Mutter geschenkt bekommen. Ich habe das so lange durchgezogen mit den Broschen, bis mein Umfeld zu Tode von dem Look gernervt war. Die Broschen wurden dann von Taillengürteln in jeder Form und Farbe ersetzt, hahaha. Call me Queen of accessories, lol.

3) Was war das Besondere an dieser Brosche?

Es gab eine ganz besonders hübsche Brosche, die meiner Schwester gehörte. Sie hatte einen Durchmesser von bestimmt 5 Zentimetern, war rund geformt, hatte viele unterschiedlich große Steine in verschiedenen Blautönen, von hellblau bis mittelblau. Die Brosche sah mega edel aus und hat einfach jeden Look gepimpt. Ich habe meistens Männerhemden, aber lieber noch Wollpullover dazu getragen. Das war irgendwie mein Swag: das Spießige auch noch kitschig machen. 😄😄😄

4) Wie hast Du sie verloren?

Eines Tages habe ich die Brosche gegen das Verbot meiner Schwester (weil ich angeblich alles kaputt mache, beschmutze oder verliere) und daher ohne ihr Wissen heimlich zur Schule getragen. Es muss irgendwann im Winter 2003 gewesen sein: Es war Morgendämmerung und ich lief gerade zur Schule, als ich mich noch mal stolz an meinem Meisterwerk von Outfit ergötzen wollte und meinen Mantel öffnete, um festzustellen, dass die verdammte Brosche nicht mehr da war. Was zur Hölle? Oh mein Gott! Ich werde geköpft. Sie wird mich töten! Was soll ich jetzt bitte mit meinem Leben anstellen? Ich hatte so eine Panik. Am Ende ging alles gut aus. Meine Schwester ist Gottseidank nicht so klug wie ich, und ist daher nicht darauf gekommen, dass ich es war, die die Brosche verloren haben könnte. ETSCH! Die Trauer sitzt trotzdem noch tief.

Wana Limar {@wanyewest040} moderiert den Modekanal MTV Style