Kann es sein, dass die Mode gerade eine zweite Revolution erlebt? Seit ungefähr siebenundachtzig Saisons heißt es ja, die Mode sei zu unübersichtlich und gleichzeitig zu fantasielos geworden, es gäbe zu viel von allem, und vor allem vieles, was gar nicht neu sei. Aber wenn ich mir die neuen Kollektionen anschaue, die in den vergangenen Wochen gezeigt wurden, dann habe ich eher das Gefühl, dass sich die Mode gerade von ihren Zwängen befreit: von körperlichen Idealen wie Jugend und Zartheit, von einseitigen Vorstellungen von Weiblichkeit, von It-Bags, Musthaves und No-Gos. Wenn ich mir dieser Tage die Laufstege anschaue, dann habe ich das Gefühl, dass da jeder mitmachen und sich alles erlauben kann.
Man kann sich heute wie eine ukrainische Putzfrau anziehen (Balenciaga), wie eine Motorradbraut (Courrèges) oder wie ein Gang-Boss aus der Bronx (Marc Jacobs). Man kann überbreite Blazer tragen (Jil Sander) oder geschrumpfte aus Wolle (Missoni), überkniehohe Stiefel in Rot (Fendi) oder geraffte aus Glitzer (Saint Laurent). Man kann ein Leder-Beret zum Jeansoverall überziehen (Dior) und eine Wolldecke zum schwarzen Hosenanzug transportieren (Céline). Es gibt tief geschlitzte Spitzenkleider mit Keulenärmeln (Alessandra Rich) und Strick-BHs zur Cordhose (Prada). Man kann sogar, sehr cool, in einen Bolero schlüpfen (oder sowas in der Art – siehe Calvin Klein). War der Bolero bisher nicht der Heute-mach-ich-mich-mal-fein-Look verklemmter Geschichtslehrerinnen? Egal. Über die Laufstege marschieren Models mit Kopftuch, mit Kurven, mit brauner Haut, schwarzer Haut, Falten, grauen Haaren, blonden Haaren, krausen Haaren. Ja, die meisten sind immer noch ziemlich dünn. Aber Kleider gibt es in allen Größen, und was mir steht, muss ich mir nicht mehr von der InStyle erklären lassen.Das Beste an der neuen Mode aber ist, dass man sie gar nicht kaufen muss. Virgil Abloh, der Modedesigner hinter Off-White, hat es mir selbst im Interview erklärt: „Heute können Leute mit dem, was sie im Kleiderschrank haben und im Secondhandladen oder bei American Apparel finden, ein Outfit zusammenstellen, das genauso cool ist wie die Mode auf den Laufstegen – und das sogar, noch bevor die Laufstegkopien bei H&M hängen.“ Das Styling, so Abloh, sei wichtiger als die Marke. Ich weiß nicht, wie der Vertriebs-Chef von Off-White Ablohs Aussage fand, ich jedenfalls kann damit sehr viel anfangen. Was für eine Befreiung, dass der gesellschaftliche Status nicht mehr vom Besitz einer ganz bestimmten, hoffnungslos überteuerten Handtasche abhängt!
Dieser handliche Laufstegführer ist als Orientierungshilfe gedacht, zum Beispiel dann, wenn man im Vintage-Laden nicht weiß, wonach man wühlen soll, oder beim nächsten Heimatbesuch überfragt ist, welche Klamotten es sich aus Mamas und Papas Schrank zu klauen lohnt. Er taugt auch als Verdauungshilfe, denn auf den Laufstegen war in dieser Saison mitunter ziemlich viel verrücktes Zeug zu sehen. Außenspiegel bei Balenciaga! Heiliger Apfelstrudel.
Schlüssel als Schmuck
Für diesen Kniff lohnt sich die Investition in ein massives Fahrradschloss. Braucht man ja eh. Den hoffentlich schön großen Schlüssel hängt man sich ans Ohr oder an einer fetten Kette um den Hals, was überaus praktisch ist, weil man ihn da immer gleich parat hat. Wer will, klebt noch kleine Strasssteine drauf, aber das ist Geschmackssache. (Gesehen bei Marc Jacobs)
Doppelt hält schöner
Beigefarbene Trenchcoats breiten sich gerade seuchenhaft in den Großstädten aus, laufen also Gefahr, bald als Langweiler gebrandmarkt zu werden. Aber nur, wenn man sie nicht herausfordert! Dieses Modell von A.P.C. freut sich über die Gesellschaft von gleich zwei Ledergürteln, die ihm zuflüstern: wir verstehen dich, Trenchcoat. Eigentlich bist du ja ein ganz Wilder.
Ein neues Accessoire
Warum keiner vorher auf die Idee gekommen ist, eine Handtasche zu entwerfen, mit der man sich auch den Lippenstift nachziehen kann, bleibt eine Rätsel, wobei ich gar nicht sicher bin, ob es sich beim Modell von Balenciaga überhaupt um eine Handtasche in Form eines Außenspiegels oder nicht doch einfach einen Außenspiegel handelt. Ich sehe die neue Accessoires-Sparte bei Net A Porter schon im Geiste vor mir:
Gürtel
Hüte
Sonnenbrillen
Außenspiegel
Unterwäsche
Beim nächsten Besuch auf dem Schrottplatz also unbedingt nach einem gut erhaltenen Exemplar Ausschau halten.
PS: Was mich auf den Bildern oben übrigens total ablenkt, ist dieser fantastische Armreif aus Großmutters Sonntagsporzellan.
Ein ungleiches Paar
Für alle, die seit 2003 nicht mehr zwei identische Socken angehabt haben, ist diese Lektion ein Kinderspiel: der linke Ohrring darf ab sofort anders aussehen als der rechte Ohrring. Dabei gibt es ein paar Spielregeln zu beachten. Stilistisch sollten sich Ohrring 1 und Ohrring 2 ähneln, also zum Beispiel beide eine kubistische Form haben oder beide aus Kunststoff sein. Ein Perlenohrring passt nicht so toll zum indianischen Federgehänge. Sehr gut vertragen sich hingegen Konträrfarben, also: Schwarz und Weiß. Lila und Grün. Rot und Blau. Ich gebe zu, dass diese Lektion wahrscheinlich doch komplizierter ist als gedacht. (Gesehen bei Balenciaga)
Frühling für Anfänger
Dieser Trick hier ist wiederum babyleicht! Man kann ihn jetzt im Frühling schon nachbauen, denn der März ist ja irgendwie doch kälter, als er aussieht. Also: statt einer Jacke einen dicken, nach Möglichkeit farbigen Wollpullover übers Blumenkleid aus dem Vintage-Laden des Vertrauens ziehen (zum Beispiel dieses hier) und dazu AUF JEDEN FALL High Heels oder hohe Stiefel tragen. (Gesehen bei Balenciaga)
Miss Moneypenny rockt
Joseph Altuzarra weiß, wie es mir geht: Genauso sehen zurzeit alle meine Strumpfhosen aus, weil ich sie nach sechs Monaten Strumpfhosensaison nicht mehr sehen kann und entsprechend ungeduldig anziehe. Allerdings schmeiße ich sie ab jetzt nicht mehr weg, sondern verwahre sie sorgfältig, denn tatsächlich ist eine zerrissene Strumpfhose das entscheidende Detail, das dem strengen Miss-Moneypenny-Kostüm immer gefehlt hat. (Hinweis: man kann zerrissene Strumpfhosen auch weiterhin anziehen, wenn man 16 Jahre alt ist und seine Eltern ärgern will. Ist aber nicht sehr originell.)
Opas Trainingshose
Das Comeback des Jahres feiert die Nylon-Jogginghose meines Großvaters (ich hoffe, er hat sie noch). Auch bei Humana habe ich neulich Modelle in genau solchen Farbkombinationen gesehen. Bei Bedarf näht man noch Reißverschlüsse in die Hosenbeine ein. Dazu ein Paar leicht spießige Mary-Janes kombinieren. (Gesehen bei Chloé)
Lolitas Look
Darauf bauend, dass ich in ferner Zukunft einmal heiraten werden, lege ich jetzt schon jeden Monat zwei Euro für dieses feine Spitzenkleid – mit Schlitz! Keulenärmeln! Schleifchen! – zur Seite (hoffentlich finde ich es dann um 80 Prozent reduziert auf irgendeiner Resale-Plattform). Die Accessoires dazu kosten weniger und erfordern keine Hochzeit. Wie verwegen sind denn bitte Haarschleifen??? Im Sommer mache ich einen Roadtrip durch die USA. Meine Vision, mich auf dieser Reise durchgehend wie Lolita auf ihrer Fahrt durch Amerika mit Humbert-Humbert anzuziehen, wird mit diesem Look vollkommen. (Gesehen bei Alessandra Rich)
Köstliche Kombis
Zu diesen erfrischenden Farbkombinationen fallen mir zwei Gerichte ein, die ich schon viel zu lange nicht mehr gegessen habe, nämlich: Rinderfilet mit Kartoffelgratin, und vier Kugeln Eis auf einmal (Mango, Blaubeer, Schokolade und Pfefferminz). Merke mir beides vor (das Essen und die Farben). (Gesehen bei Mulberry)
Farbenlehre für Puristen
Auch diese Farblektion ist eine Überraschung, aber was für eine: Blau passt zu Blau (Roksanda)! Pink zu Pink (Koché)! Und ja, man glaubt es kaum, aber: Rot zu Rot (Max Mara)! Den Trick nur bitte nicht auf Schwarz anwenden, so sehen auf dem Farben-Friedhof Berlin nämlich schon alle anderen aus.
Carries Erbe
Carrie Bradshaws Blütenbroschenerbe lebt mit dieser Halsblüte von Saint Laurent fort. Während Carrie ihre Blumen noch auf zarten Tanktops und mädchenhaften Minikleidern tragen konnte – einfach deshalb, weil das, was Carrie am Leib hatte, immer cool und revolutionär aussah – wird die Halsblüte zum schwarzen Disco-Look aus Spaghettikleid und Lederstiefeln modernisiert und erinnert zugleich an die glamourösen Partynächte der Siebziger (rote Stoffblüten gibt es in gut sortierten Blumenläden. Am besten pinnt man sie an ein Geschenkband).
Dirndl reloaded
Wer hätte gedacht, dass die zwei Dirndl-Elemente „Schürze“ und „Spitze“ einmal so cool zusammen aussehen würden? Hier sehen wir den wadenlangen Jeansrock vertikal aufgeschlitzt und über einen von Muttis Spitzenunterröcken gezogen. Wichtig ist, dass der Rock nicht zu eng und wirklich überknielang ist und die Spitzenbordüre nicht am Saum, sondern am Schlitz hervorschaut. (Gesehen bei Sacai)
Laufsteg-Leggings
Wenn man vier Wochen lang an Laufstegrändern gesessen und dabei immer nur Sachen an sich hat vorbeilaufen sehen, die man sich niemals wird leisten können, ist der Moment, in dem exakt die Sporthose an einem vorbeimarschiert, die man selbst zuhause im Schrank hat, so erfrischend wie ein Gartenschlauch an einem Hochsommertag. Dass mir dieser Look von Giambattista Valli tatsächlich gefällt, ist ein Wunder, schließlich hatte ich der Leggings doch zum Ende der 10. Klasse auf Nimmerwiedersehen abgeschworen, nachdem ich die gesamte Mittelstufe in einem etwas zu durchsichtigen Modell durchlebt hatte (dazu trug ich po-lange Strickjacken. Es war schrecklich).
Der Reiz des Unsichtbaren
Hier eine Theorie, warum die Kombination aus wadenlangem Rock und hohen Lederstiefeln so toll ist: man sieht nicht, wo der Lederstiefel hinführt. Dieses Unwissen regt wiederum die Fantasie an. Wo könnte er wohl enden, und wie ist dieses Wo so? Nichts ist verführerischer als das, was man nicht kennt. (Gesehen bei Valentino)
Wolldecke to go
Die Hausaufgaben für heute:
a) Ein schönes Jackett aus Boyfriends Kleiderschrank klauen
b) Eine große Wolldecke auf eBay finden
Zu Boyfriends Jackett kombiniert man am besten eine Anzughose aus dem eigenen Kleiderschrank. Der Look macht nämlich nur dann Spaß, wenn mindestens ein Element wirklich passt (sonst fühlt man sich wie einem Sarg aus Stoff, also irgendwie unbeweglich).
Beim Anblick der Wolldecke denkt man vielleicht an etwas, an das man jetzt bitte nicht mehr denken will – WINTER – aber diese hier ist so grün wie das Gras einer sonnenbeschienen Blumenwiese, und apropos, dorthin kann man sie sehr gut zum ersten Outdoor-Nickerchen des Jahres mitnehmen.
(Gesehen bei Céline)
Fein daheim
Es kann sehr gut sein, dass ein riesiger Wollpullover zum minikurzen Négligé nur bei klapperdünnen Models, die darin über einen Laufsteg spazieren, okay aussieht, und man als normalbreiter Mensch in so einem Aufzug besser nicht auf die Straße geht. Aber studieren geht ja bekanntlich über probieren. Ich habe den Verdacht, dass es hier sehr darauf ankommt, wie viele Zentimeter vom Négligé unterm Wollpullover hervorschauen. Als bekennender Feind der Hausjogginghose (nicht zu vergleichen mit Großvaters ultraschickem Nylon-Modell, siehe oben) suche ich übrigens schon lange nach einem Haus-Outfit, in dem ich elegant wie Audrey Hepburn aussehe und dabei ein großes Käsebrot essen kann, ohne mich dick zu fühlen. Vielleicht wäre dieser Look ideal. (Gesehen bei Chloé)
Kettenreaktion
Fragt man Modeskeptiker, ist Mode etwas total Überflüssiges. Fragt man mich, antworte ich das Gleiche, denn ist nicht fast alles auf der Welt, bis auf Luft und Wasser, streng genommen überflüssig? Unsere irdische Aufgabe besteht darin, das überflüssige Drumherum ein bisschen hübscher zu machen, damit das Atmen und Wassertrinken nicht zu langweilig wird. Nehmen wir zum Beispiel diese Kette. Sie baumelt an einem Outfit von Louis Vuitton, dass ohne sie ein bisschen trist wäre. Ich finde meine Outfits auch manchmal trist, aber in irgendwas muss man ja vor die Tür gehen. Ab jetzt hänge ich eine Kette dran. Ist zwar überflüssig, macht aber echt Spaß.
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