„Da hinten wird‘s hell.“ Wir sitzen auf der Terrasse unseres Ferienhauses an der französischen Atlantikküste und spähen himmelwärts. Der Rasen im Garten ist braun – die Île de Noirmoutier hat einen heißen Sommer gehabt. Jetzt ist September, und wir frösteln. Ich mache Strandurlaub mit meiner Familie und meinem Freund, wochenlang habe ich mich darauf gefreut, aber nach Strand sieht es heute gar nicht aus. Und laut der Wettervorhersage, die ich, seitdem wir bei Nieselregen auf dieser Insel angekommen sind, stündlich checke, wird es auch so bleiben. Aber am Meer kann man ja nie wissen. Plötzlich kann der Himmel aufreißen, der Wind die Wolken wegpusten, die Sonne hervorbrechen und alles in das köstlich warme, goldene Licht des Sommers tauchen. Ich setze meine Hoffnung in jeden hellweißen Streifen, den ich am Horizont erspähen kann.
„Da hinten wird es hell“ wird der geflügelte Spruch dieses Urlaubs. Jeder ist mal an der Reihe mit dem gruppenaufheiternden Optimismus. Ab der zweiten Hälfte der Woche müssen wir trotzdem abends drinnen essen. Wir lassen es uns gut gehen – was der Insel in diesen Tagen an Sonne fehlt, macht sie mit viel gutem französischem Essen und Wein wett. Wir bleiben zuversichtlich, fahren bei bedecktem Himmel ans Wasser und spielen uns mit Strandtennis warm. Wir liegen in unseren Badeanzügen im Sand und warten geduldig frierend auf den vereinzelten Sonnenstrahl, der ab und an hinter den Wolken auftaucht. Einmal brechen wir voller Euphorie zu einer Radtour auf, überzeugt, dass es dahinten jetzt aber wirklich hell wird. Ich habe mein Strandtuch und mein Buch dabei. Als wir zurück kommen, ist beides durchnässt. Bis auf zwei wirklich sonnige Strandtage, an denen man ins Wasser geht, weil einem heiß, und nicht, weil einem langweilig ist, bleibt der Urlaub verregnet.
Sechs Monate später habe ich das Gefühl, dass meine verzweifelte Suche nach der Sonne auf dieser französischen Atlantikinsel begonnen hat.
Dabei fand ich das, was nach diesem Urlaub kam, ja gar nicht so schlimm. Ab Ende Oktober war ich in Weihnachtsstimmung und fragte mich, wie ich mich all die Jahre so über die kälter und kürzer werdenden Tage hatte aufregen können: denn war dieser Herbst nicht total gemütlich? Ich genoss die grauen Sonntage mit meinem Freund, an denen wir uns nicht verpflichtet fühlen mussten, die Wohnung zu verlassen. Ich hatte Ideen und arbeitete viel. Ich freute mich über die Kälte, weil ich endlich meine Lammfellfliegerjacke von 1974 anziehen konnte, die ich an einem heißen Spätsommertag in Paris gekauft hatte. An Weihnachten regnete es wie jedes Jahr, aber das konnte meinem Spaß an Weihnachten nichts anhaben. Dann kam der Januar und mit ihm die Erkenntnis, dass der Winter gerade erst richtig Fahrt aufgenommen hatte.
Im Februar bin ich nah am Nervenzusammenbruch. Selbstdiagnose: Saison-Depression, auch bekannt als Ich-wohne-im-falschen-Land-Schwermut. An einem besonders trostlosen Samstag beschließe ich, gar nicht erst aufzustehen. Gegen 12 Uhr packt mich ein überraschender Bewegungsdrang, ich höre laut „Hold my hand“ von Jess Glynne, eins von diesen Sommersonnegutelauneliedern, in deren Videos immer Mädchen mit Flatterhaaren in einem rosa Cabrio durch Santa Monica fahren, und hüpfe dazu auf dem Bett. Es ist Jahre her, dass ich auf einem Bett gehüpft bin. Toll! Für einen Moment fühle ich mich lebendig. Dann klingeln meine Spielverderber-Nachbarn Sturm und keifen durch die Tür, ich solle sofort mit dem Gehüpfe aufhören. Ich falle in mich zusammen wie ein Ballon, dem die Luft ausgegangen ist.
Am späten Nachmittag werde ich von meinem Freund heulend im Bett aufgefunden. „Warum heulst du denn?“ fragt er streng, und leider habe ich keine Antwort. Ich schäme mich dafür, dass meine Laune so vom Wetter abhängig ist. Wie dumm, wegen des Winters zu heulen! Man kann das Wetter nicht abstellen. Ich wünschte, das Wetter wäre mir egal. Aber alles, woran ich denken kann, ist sonnenverbrannter Asphalt, goldenes Licht, das durch dicht begrünte Laubbäume fällt, Schwimmen bei Sonnenaufgang im Freibad, Eisessen nach der Arbeit, flackernde Windlichter in endlosen Balkonnächten. Ich kann nicht mehr. Ich muss jetzt sofort die Sonne finden.
Zuerst schaue ich im Internet nach Sommersachen. Ich bin sicher, dass mir ein neuer Badeanzug neue Hoffnung geben könnte, dass die Sonne eines Tages doch wiederkommt. Hoffnung ist wichtig! Und bis die Balkonsaison eröffnet wird, kann ich den Badeanzug ja drinnen tragen. Ich suche im Internet nach Badeanzügen. Außer einem tollen Modell von & Other Stories finde ich: ein Paar gelbe Vintage-Mules, einen karierten Sommermantel, eine Strohtasche mit Perlen, eine minzfarbene Sonnenbrille, einen geblümten Kaftan, eine Jeansjacke mit Nieten, Ohrringe aus Holzperlen und rosa Badelatschen. Draußen hagelt es. Ich schaue im Internet nach Flügen nach Kalifornien, höre „On the beach“ von Chris Rea und heule ein bisschen vor mich hin.
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Weil ich kein Geld für den Bikini meiner Träume habe, kaufe ich stattdessen eine Tube Selbstbräuner. Mein Gesicht ist jetzt gelb statt weiß, das ist zwar ein Fortschritt, aber trotzdem nicht besonders hilfreich. Ich arbeite mich in das Thema Selbstbräuner ein und finde heraus, dass es bei Charlotte Tilbury ein Produkt mit dem vielversprechenden Namen „Supermodel Body“ gibt, das nicht gelb, sondern tatsächlich braun macht. Ich bin jetzt nicht mehr so bleich wie vorher, stelle aber fest, dass auch der Spiegelblick in ein braun gefärbtes Gesicht die Sonne nicht im Geringsten ersetzt.
Dann, plötzlich: Frühling. FRÜHLING! Berlin erwacht. Alle sind draußen, und zwar freiwillig. Erstaunt, als sei ein Ufo im Anflug, blinzeln die Leute himmelwärts. Der Himmel ist BLAU. Ich SCHWITZE in meiner Fliegerjacke. Mittags esse ich mein Käsebrot auf einer PARKBANK, während über meinem Kopf MÖWEN kreisen. Ich überlege, einen Tag blau zu machen, um keinen einzigen Funken von diesem kostbaren Licht zu verpassen. Ständig bleibe ich stehen und fotografiere verzückt Ansichten von Berlin unter blauem Himmel. Ich bin ein anderer Mensch. Alles ist toll, nichts kann mich stressen.
So schnell, wie die Sonne aufgetaucht ist, verschwindet sie wieder. Ich bin jetzt fast noch verzweifelter als vorher. Neunmalkluge Frauenmagazine, die ich mir im Supermarkt anschaue, wollen aus einer amerikanischen Studie erfahren haben, dass orangefarbene Säfte und Suppen gegen das Saisontief helfen. Ich kaufe mir einen Karotten-Orangen-Saft. Er hilft nicht. Nichts hilft! Ich muss jetzt zu drastischeren Mitteln greifen. In der Mittagspause betrete ich entschlossenen Schrittes: das Sonnenstudio.
Das Sonnenstudio ist ein trister Ort mit blau beleuchtetem Warteraum, aber an dem Tag, an dem ich da bin, muss ich nicht warten, denn viel ist nicht los. Bin ich der einzige Mensch, der die Sonne sucht? Die braune Frau hinterm Tresen gibt mir ein Tütchen Aroma-Sonnenöl: „Damit wirst du schneller braun“. Das Sonnenöl riecht nach Cranberries. Ich ziehe mich aus und lege mich in die Röhre. Ich bin keine geübte Sonnenbankbesucherin und finde den Moment, in dem sich die Klappe über mir schließt, immer noch gruselig. Als meine große Schwester und ich klein waren und einmal vor dem Sonnenstudio auf unsere Mutter warteten, erzählte mir meine Schwester, die Sonnenbankkapsel sei ein Fahrstuhl, der meine Mutter tief hinab in die Erde zum glühend heißen Erdkern befördere, um sie dort braun zu rösten. Allerdings mache dieser Fahrstuhl manchmal auf dem Weg zurück an die Erdoberfläche Probleme, deshalb könne es sein, dass Maman auf ewig im Erdkern stecken bleiben werde. Jedes Mal, wenn ich ins Solarium gehe (es waren erst zwei Mal), muss ich an diese schreckliche Geschichte denken.
Weil ich mich auf der Sonnenbank trotz Schutzbrille nicht traue, die Augen aufzumachen, finde ich den Knopf nicht, um die Dudelmusik aus den Lautsprechern auszustellen. 8 Minuten liege ich unter einem lauwarmen Ganzkörperföhn. Ich stinke nach Cranberries. Dazu schmettert Andreas Bourani. Es ist soweit: Ich habe meinen Tiefpunkt erreicht.
Am Abend darauf schaue ich einen Film, der in New York spielt, wo laut Drehbuch das ganze Jahr über die Sonne scheint, die Leute nie frieren und nie schwitzen, auch nicht bei Flipflopwetter. Man ist immer draußen und isst Tacos dazu. Die Hauptdarstellerin des Films ist trotzdem nicht so richtig glücklich, und beschließt deshalb von jetzt auf gleich, nach Los Angeles zu fliegen. Ich halte den Film an und schaue nach, was die Wettervorhersage-App für Südfrankreich prophezeit. Meine Schwester wohnt in Südfrankreich. Ich checke Easyjet. Es gibt einen Flug für 70 Euro nach Toulouse. Ich habe das Gefühl, dass ich dank des Wetters seit Wochen nichts Verrücktes oder Erheiterndes unternommen habe, oder auch einfach nur freiwillig vor die Tür gegangen bin.
Am nächsten Morgen buche ich den Flug. Mein Gott, fühle ich mich verwegen. „Sind Sie sicher, dass Sie heute fliegen möchten?“, fragt mich Easyjet bei der Buchung. „Bitte stellen Sie sicher, dass Sie rechtzeitig am Flughafen sind.“ Offenbar kommen Spontanflüge seltener vor, als Hollywoodfilme behaupten. Mittlerweile hagelt es mal wieder, aber das ist mir egal, denn meine Stunden in diesem grauen Loch sind gezählt. Ich habe unschlagbar gute Laune.
Und Himmel, was ist die Sonne schön, wenn man sie nach langer Suche endlich findet! Als ich am Samstagmorgen in der schlecht beheizten Wohnung meiner Schwester – Heizungen brauchen sie hier nicht – die Fensterläden aufreiße, ist die Welt blau. Hinter der Gartenmauer sirren Zikaden. Da sind Palmen, und die Häuser sind rostbraun und ockergelb, geröstet und gebräunt durch ausdauernden Sonnenschein. Ich fühle mich schwerelos wie an einem dieser klaren, taugewaschenen Sommermorgen, an denen die Welt aussieht, als hätte sie sich nur für mich schön gemacht. Ich bin geblendet, so wunderbar habe ich es lange nicht mehr gefunden, aus dem Fenster zu schauen. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen, der Sonne einfach hinterher zu reisen? Warum bin ich nicht früher darauf gekommen, einfach irgendetwas zu unternehmen, anstatt zuhause zu sitzen und mich mit Selbstbräuner einzucremen?
Den ganzen Tag über sauge ich die Sonne auf wie ein ausgetrockneter Schwamm. Weil ich vor Freude nicht normal laufen kann, hopse ich durch die Stadt. In den Markthallen berühre ich jede Zitrone, als müsste ich überprüfen, ob sie tatsächlich echt ist. Ich bewundere den grünen Spargel wie eine Spezies von einem fernen Stern. Die Tomaten sind dunkelrot. Meine Schwester und ich wechseln die Straßenseite, um in der Sonne zu laufen, wir holen uns Essen auf die Hand, um draußen sitzen zu können, wir meditieren im Kreuzgang der Jakobiner im letzten Strahl des Nachmittagslichts, wir holen alles aus diesem Sonnenschein raus. Irgendwie, denke ich, ist es ja auch ganz schön, dass wir Nordeuropäer so unterm Wetter leiden: so können wir uns wenigstens richtig freuen, wenn es einfach mal fantastisch ist.
Am nächsten Morgen kann ich es kaum erwarten, aus dem Fenster zu schauen. Euphorisch reiße ich die Fensterläden auf. Der südfranzösische Himmel ist grau.