Wie es wirklich ist, zur Paris Fashion Week zu fahren

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Es ist 13 Uhr 45, und ich sitze am Flughafen Berlin-Tegel in einem Flugzeug fest, das vor über einer Stunde hätte losfliegen sollen. Ich müsste gerade eigentlich an einem Interview arbeiten, das ich heute Abend abgeben muss, aber ich kann mich nicht konzentrieren, weil links von mir ein Mädchen sehr laut immer und immer wieder „Mama, ich kann dich nicht hören!“ in ihr Telefon sagt und rechts eine Chinesin mit fünf anderen Chinesinnen in einer Tonlage diskutiert, die nach unmittelbar bevorstehendem Nervenzusammenbruch klingt. Vor allem aber beginnt in weniger als drei Stunden die Jacquemus-Show in Paris, und wir stehen immer noch an diesem verdammten Berliner Gate.

Wie man an eine Einladung zu einer Modenschau kommt

Ich fahre für das ZEITmagazin zur Fashion Week nach Paris. Es gibt drei Wege, an Einladungen für Modenschauen zu kommen: 1. Man ist Anna Wintour oder Tim Blanks oder sonst jemand sehr wichtiges und/oder bekanntes und die Modefirmen laden einen ein. 2. Man ist Influencer und wird von einem Modehaus eingeflogen und in einem tollen Hotel untergebracht, um die Show des Hauses zu sehen, was allerdings mit gewissen Verpflichtungen einhergeht (mindestens x Instagram-Posts von der Show, Besuche von Veranstaltungen konkurrierender Labels sind verboten). 3. Man ist Redakteurin, Stylist, Einkäuferin oder Fotograf, reist freiberuflich oder im Auftrag eines Magazins an und muss für die meisten Schauen Einladungen anfragen, was nicht unbedingt heißt, dass man diese Einladungen auch bekommt. Ich tue letzteres.

Gestern habe ich erfahren, dass ich keine Einladung für die Gucci-Show bekommen habe. Gucci zeigt in diesem Jahr zum ersten Mal in Paris, in einem Theater. Angeblich ist das Theater winzig klein, jedenfalls hat Gucci keinen Platz für mich, sondern nur für den Stylisten des ZEITmagazins. Ich war ziemlich enttäuscht, als ich das gehört habe. Um ehrlich zu sein, musste ich mir Mühe geben, die Ruhe zu bewahren.

Es heißt immer, Modeleute seien so griesgrämig. Das sind sie tatsächlich, und ich weiß auch, warum. Die Modewelt ist ein bisschen wie früher der Sportunterricht: ständig lebt man mit der Angst, als allerletzte, und dann auch nur unter großem Widerwillen, ins Team gewählt zu werden. Entweder man wird überhaupt nicht eingeladen, oder man wird eingeladen, muss aber stehen, oder man darf sitzen, aber nur in der zweiten Reihe. Oder man hat ein Ticket für einen Sitzplatz in der ersten Reihe, ist aber wiederum zu einer anderen Show gar nicht eingeladen. Und jedes Mal, wenn man wieder ausgeschlossen wurde, wenn man wieder stehen oder draußen bleiben muss, fängt man an, an sich zu zweifeln. Bin ich unwichtig? Bin ich dick? Bin ich doof?

Wo ich schon nicht zu Gucci eingeladen bin, würde ich jetzt bitte gerne die Jacquemus-Show miterleben. Immerhin habe ich extra ein Outfit dafür eingepackt. Ich fange an zu rechnen. Wenn wir in 15 Minuten losfliegen, könnten wir mit etwas Glück und Rückenwind um 15 Uhr 15 in Paris sein. Wenn das Unmögliche möglich wird und ich um 15 Uhr 30 aus dem Flughafen raus bin – mitsamt meinem Aufgabegepäck – könnte es klappen. Ich müsste ein Uber nehmen (45 Euro), obwohl ich eigentlich versprochen habe, Zug zu fahren (10,30 Euro), und wenn der Pariser Verkehr nicht zu schlimm ist, könnte ich um 16 Uhr 15 bei meiner Airbnb-Wohnung sein. Dann allerdings müsste ich noch den Koffer in den fünften Stock stemmen. Und mich umziehen, denn unter keinen Umständen gehe ich in meinem Flugzeugoutfit zu Jacquemus. Könnte ich mich, um Zeit zu sparen, im Taxi umziehen? Dann bräuchte ich allerdings ein Taxi mit weiblichem Chauffeur. Gemessen daran, wie überrascht ich immer bin, wenn ich in einem Taxi mit Fahrerin sitze, ist diese Option eher unwahrscheinlich. Ich überlege, wie ich mich in mein drapiertes, kokonartiges Jacquemus-Top zwängen könnte, ohne dem Taxifahrer meine Brüste zu zeigen. Schwierig. Und wenn ich nur bis zum Gare du Nord fahre, dort meinen Koffer in ein Schließfach tue und mich hinter den Schließfächern… das Flugzeug rollt! Wir fliegen! Und ich werde es niemals zur Jacquemus-Show schaffen.

Warum ich überhaupt hier bin

Zu meiner ersten Modenschau ging ich mit 13 Jahren. Ich weiß noch genau, was ich anhatte: eine knallenge, minzgrüne Jeans, einen Männerblazer vom Flohmarkt, darunter ein weißes T-Shirt von meinem Vater. Außerdem hatte ich die aktuelle Ausgabe der Vogue dabei. Die hatte ich mir extra vorher gekauft, um sie gut sichtbar unter meinen Arm klemmen und damit aller Welt signalisieren zu können: Ich bin Expertin, ich kenne mich aus. Wenn ich mich recht erinnere, sah ich ziemlich lächerlich aus. Die Modenschau wurde von einer Modeschule ausgerichtet, die Absolventen zeigten ihre Kleider. Ich war fasziniert. Eines Tages, so stellte ich mir vor, würde ich zu einem richtigen Défilé gehen. „Karl Lagerfeld sollte dich mal einladen!“, sagte mein Großmutter immer, und da gab ich ihr absolut recht. Ich sah mich im Cocktailkleid am Laufsteg von Chanel sitzen, mit Schreibblock und dem unbarmherzigen Blick des Profis bewaffnet, und hinterher mit coolen Leuten in einem Pariser Bistro die Neuigkeiten der Branche besprechen. Allerdings glaubte ich nicht daran, dass auch nur ein Krümel von diesem Traum in Erfüllung gehen würde. Eine Einladung zu einer Pariser Modenschau erschien mir so realistisch wie ein Baumhaus auf dem Mars.

Elf Jahre, drei Redaktions-Praktika, ein Literaturstudium und viele einladungslose Fashion Weeks später bin ich hier, mittlerweile in Paris Charles de Gaulle angekommen, eine Woche voller Mode liegt vor mir, und ich bin so deprimiert, dass ich, während ich im Regionalzug durch die Pariser Vororte fahre und die Jacquemus-Show ohne mich anfängt, doch tatsächlich eine kleine Träne runterschlucken muss. Mein Gott, bin ich bescheuert, denke ich. Genau hier wollte ich immer hin: zur Modewoche nach Paris. Als Profi, nicht als Zaungast. Manche Leute beneiden mich bestimmt gerade, denken: Hat die es gut, darf einfach mal für fünf Tage nach Paris fahren. Aber die Mode kann eine Welt voller Schein und Lügen sein, voller Schweiß und Tränen. Deshalb werde ich hier und jetzt erklären, wie es wirklich ist, die Schauen in Paris zu erleben.

Tag 1: Airbnb statt Ritz, Haferflocken statt Party

Dienstagmorgen: Der Himmel ist so blau, wie er nur im Pariser Frühherbst blau ist, ein tiefes, warmes Blau, das sich mit nichts vergleichen lässt. Das ehrlichste aller Blaus. Ich bin bester Stimmung. In meiner Airbnb-Wohnung riecht es ein bisschen komisch, und außerdem ist das Bettlaken so klein, dass es die ganze Zeit von der Matratze rutscht, aber: egal! Ich bin in Paris! Ich habe geschlafen (von 23 bis 7 Uhr), ich habe gefrühstückt (Haferflocken, am Vorabend im Monoprix eingekauft), ich habe mein Interview abgegeben und acht Emails geschrieben. So viel also schon mal zum Klischee, dass man auf der Fashion Week praktisch nichts anderes tut, als von Party zu Party zu hopsen.

Die Show von Marine Serre findet an Bahngleisen statt. Ich habe einen Stehplatz, aber Cathy Horyn, die Modekritikerin des New York Magazines, steht auch, stehend sieht man nämlich besser. Wir sehen: Handtaschen, die aussehen wie kleine Bowlingkugeln, ein minzgrünes Kostüm mit etwas darunter, das aussieht wie Skiunterwäsche, einen mit klimpernden Autoschlüsselanhängern behängten Mantel, eine Abendrobe aus geblümtem Teppich.

Das Teppichkleid bei Marine Serre

Nach der Show würde ich Cathy gerne kennen lernen, aber stattdessen lerne ich zufällig eine sehr bekannte Stylistin kennen, die mich ihrerseits allerdings komplett ignoriert und nur der Person neben mir lauthals berichtet, sie habe heute Abend ein wichtiges Dinner und müsse jetzt auch dringend ihre Limousine finden. Komisch, denke ich, nachdem sie in ihren Wagen gestiegen ist und ich in meine U-Bahn. Selbst jene Modeleute, die es offensichtlich geschafft haben, scheinen die Angst nicht loszuwerden, eines Tages doch wieder als ungeliebtes Überbleibsel auf der Bank sitzen zu bleiben. Würden sie sonst so panisch darauf hinweisen, wie wichtig sie sind?

Mittags stelle ich fest, dass ich meinen neuen Missoni-Poncho seit heute morgen falsch herum getragen habe.

Jetzt richtig rum: mein Poncho. Foto: Adam Katz Sinding

Ich versuche ein bisschen Geld zu sparen und gehe deshalb zu Eric Kayser hinter der Place Vendôme, einer schicken Bäckerei, in der man für 10 Euro einen Salat mit Baguette, ein Dessert und ein Getränk bekommt. Ich habe gerade ein sehr großes Stück von meinem Brot abgebissen – so groß, dass ich es umständlich im Mund wenden muss, um überhaupt darauf kauen zu können – als mich eine elegante, dunkelhaarige Frau anspricht. „Clairette?“, sagt sie. „Ich bin Sylvia Toledano. Sie tragen Ohrringe von mir.“ Sylvia Toledano folgt mir auf Instagram, und ich liebe ihren Schmuck. Um von dem riesigen Baguettestück abzulenken, dass immer noch in meinem Mund festklemmt, nehme ich meine linke Kreole ab und halte sie Frau Toledano hin. „Toll, Sie zu treffen“, mampfe ich. „Ich liebe Ihre Ohrringe, aber mit diesem hier stimmt was nicht, er fällt mir immer vom Ohr. Können Sie ihn reparieren?“ Sie kann. Ihr Atelier und ihre Boutique sind in derselben Straße, gleich neben der Bäckerei. 10 Minuten später überreicht sie mir feierlich die reparierte Kreole, und natürlich muss ich noch in der Boutique vorbeischauen und alle neuen Ohrringe anprobieren.

Heute Abend findet die Saint-Laurent-Show am Eiffelturm statt. Modenschauen beginnen verlässlich eine halbe Stunde zu spät, doch auf der Einladung von Saint Laurent steht, dass die Türen um exakt 19 Uhr 45 geschlossen werden. Ich bin eine notorische Zuspätkommerin. Heute Abend werde ich pünktlich sein. Allerdings muss ich erstmal von meinem aktuellen Standort – einem Keller unter dem Espace Niemeyer, in dem die Show von Koché stattgefunden hat – in meine Wohnung kommen, mich umziehen, und von dort, quer durch die Stadt, zur Place du Trocadéro gelangen. In 45 Minuten.

Zwei Models in Koché nach der Show von Koché

Zum Glück besitze ich das Talent, mich in wenigen Minuten cocktailpartytauglich fertig machen zu können. Zwischen 18 Uhr 35 und 18 Uhr 42 schaffe ich es, meine Kleidung abzuwerfen, meine Haare zu entkletten, das Gesicht zu pudern, den Inhalt meiner Fendi-Tasche in eine andere Handtasche umzupacken, in meine Jeans und mein Kokon-Top von Jacquemus zu schlüpfen, die Ohrringe zu wechseln, meine schwarzen Mules im Koffer zu finden und auf halbem Weg nach unten noch mal zurück in die Wohnung zu rennen, um die Einladungskarte zu holen.

In der U-Bahn dämmert mir plötzlich, was für ein unglaubliches Glück ich eigentlich habe. Ich bin schick angezogen auf dem Weg zu einer großen Pariser Modenschau, mit Einladung. Wie oft habe ich im kalten Pariser Märzregen erfolglos versucht, ohne Ticket an den Sicherheitsleuten vorbeizukommen oder PR-Agenten an der Absperrung zu überzeugen, dass ich auf jeden Fall auf der Liste stehe, bis sie mich mit verächtlichem Gesichtsausdruck und einer scheuchenden Geste des Platzes verwiesen. Wie oft im Leben kommt es vor, dass ein großer Traum wirklich in Erfüllung geht?

Auf dem Weg zur Place du Trocadéro durchquere ich einen Park. Da steht ein Mann und klimpert traurig mit einem Ring, an dem kleine Eiffelturme baumeln. Als ich an ihm vorbeistakse, guckt er mich hoffnungslos an. Wie oft muss dieser Mann das Scheitern ertragen, jeden Tag hunderte, tausende Male, wenn die Leute an ihm vorbeilaufen und keinen Eiffelturm kaufen wollen? Ich fühle mich ein bisschen schlecht.

Der Ausblick bei der Saint-Laurent-Show ist in Ordnung

Die Models bei Saint Laurent laufen über einen quadratischen, einige Zentimeter tiefen See, was so aussieht, als könnten sie über Wasser gehen. Dabei tragen sie klobige Plateausandalen zu Mini-Shorts und 7/8-Hosen, und ich warte ängstlich auf den Moment, in dem das erste Model ausrutscht und die Schamattacke seines Lebens durchmachen muss. Nichts passiert. Die Models sind nicht nur sehr kompetent, was das Über-Wasser-Laufen betrifft, sondern leider auch sehr, sehr dünn. Ich danke dem Herrn, dass ich nicht so aussehen muss, um meinen Job machen zu dürfen, und überlege, was ich heute Abend essen könnte, während Anna Ewers in einer Art Lederunterhose und mit einem roten Zirkushut auf dem Kopf an mir vorbeimarschiert.

Tag 2: Schneller als Wintours Limousine 

Beim Kofferpacken für die Fashion Week habe ich meine Outfits für die ganze Woche geplant. Das klingt albern, ist aber sehr effizient – mein Koffer hat nur 13 Kilo gewogen. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich allerdings schon im Urlaub vor zwei Wochen, am Strand von Apulien, darüber nachgedacht, was ich in Paris anziehen könnte. Am nächsten Tag trage ich: ein seidenes Vintage-Hemdkleid von Missoni, dazu einen lila Schlangenledergürtel, eine militärgrüne Jacke, die ich mir aus einem abgeschnittenen alten Burberry-Trenchcoat habe schneidern lassen, und kniehohe, cremefarbene Lacklederstiefel von Aeyde. Während des Anziehens putze ich mir die Zähne. Ich bin extrem stolz auf mein Outfit und habe seit Wochen auf das richtige Wetter gewartet, um es tragen zu können: warm genug für die Jacke, kalt genug für die Stiefel.

Selfie mit Zahnbürste

Zum Resee von Gucci – Resees sind Termine, bei denen Einkäufer und Journalisten einen zweiten (in meinem Fall: ersten) Blick auf die Kollektion werfen können – fahre ich mit einem dieser tollen Vélib-Räder, die es jetzt sogar mit Elektroantrieb gibt. Damit ist man dreimal so schnell wie eine Limousine, jedenfalls, wenn man so fährt wie ich und sich haarscharf an allen Autos vorbeischlängelt. Unterwegs zieht mich eine magische Kraft in das Kaufhaus Le Bon Marché, wo gerade die kalifornische Designerin Clare V. gastiert. Ich habe schon länger eine bonbonfarbene Handtasche von ihr im Auge. „Es ist die letzte, die wir noch haben“, sagt der Verkäufer mit treuherzigem Blick, als er sie mir vorführt. Ich lasse sie zurücklegen und schwinge mich wieder aufs Fahrrad.

Dinge, die man beim Resee besser sieht als in der Show: den Erdbeer-Print auf dieser Handtasche von Gucci

Nachmittags ist die Show von Dries van Noten im Palais de Tokyo, und dank meines Jacquemus-Traumas komme ich überpünktlich dort an. Um nicht so zu wirken, als wäre ich vor lauter Langeweile so früh hier („fashionably late“ nennt man dieses Konzept), schlage ich ein paar Minuten auf einer Parkbank um die Ecke tot, eine schöne Gelegenheit, mal runterzukommen. Stattdessen mache ich eine Insta-Story. „Sitting on a park bench!“ schreibe ich und komme mir dabei vor wie die lächerlichste Person des Universums. Ich lösche die Story und frage mich, warum ich es nicht mal hinkriege, fünf Minuten bewegungslos auf einer Parkbank zu sitzen.

Wie ich fast von der Modenschau-Security abgeführt werde

Die Show findet in einem herrlichen, von weißem Licht gefluteten Raum statt. Ich habe einen Stehplatz, eine Kollegin von der Vogue allerdings auch. Nachdem man uns aus drei verschiedenen Stehnischen verscheucht hat, positionieren wir uns mit bester Sicht neben dem Fotografenblock. Dann baut sich plötzlich ein riesiger Mann in schwarzen Pluderhosen und mit schielendem Auge vor uns auf und sagt: „You can’t stand here.“ „Says who?“ schnappt die Vogue-Kollegin von links. Ich funkele ihn böse an. „I am going to stand here!“, grollt der Mann und guckt dabei so, als wolle er uns jede Sekunde zusammenschlagen. „If you don’t leave now, I am going to get security!“ Wie bitte? Für wen hält sich dieser Idiot? Ich bewege mich keinen Zentimeter von hier weg. „YOU LEAVE NOW!“ donnert er jetzt und kommt so nah an mein Gesicht heran, dass ich seinen Atem riechen kann. „I AM THE PRODUCER OF THIS SHOW! I HAVE TO STAND HERE!“ Sag das doch gleich, du Trottel. Tatsächlich hat er einen Walkie-Talkie dabei und fängt jetzt an, Anweisungen in das Gerät zu sprechen: „Three, two, one. Go!“ Ich schlottere noch ein bisschen, als wir uns hinter die letzte Sitzreihe verziehen. Dann läuft das erste Model vorbei und ich bin ganz verzaubert von Dries van Notens transparenten Blumenmänteln und übermalten Botanik-Prints und den weiten Hosen, aus denen Kordeln baumeln und blaue Plastikfedern wuchern.

Dries van Noten! (Quelle: Vogue Runway)

Bei der Show von Rochas sehe ich, dass die Fersen eines Models mit mehreren, speckig aussehenden Blasenpflastern bandagiert sind. Die Kleider sind elegant: mit Straußenfedern besetzt, mit Leopardenmuster bedruckt. Aber der Anblick dieser übel zugerichteten Füße ist eine schockierende Erinnerung an den Schmerz, den Schweiß, die Verzweiflung, die hinter der glatt gebügelten Perfektion der Mode stecken. Alles ist provisorisch, alles ist Verfall, und in Kleidern stecken auch nur nackte Menschen.

Auf dem Weg nach draußen stoße ich mit dem Producer der Dries-van-Noten-Show zusammen (was macht der denn hier?), der mir ein ziemlich fiese Fratze schneidet.

Am Abend habe ich sechs Shows und drei Resee-Termine absolviert und bin dafür vier Mal vom 3. ins 8. Arrondisement und wieder zurückgefahren. Ich schwitze. Mein Kopf dröhnt. Vor allem aber sind meine Füße in den Lacklederstiefeln so aufgequollen, dass ich sie keinen Zentimeter mehr bewegen kann. Ich stehe in der U-Bahn auf dem Weg zur Show von Courrèges, rüttele an meinen Fußgefängnissen und versuche, einen Klaustrophobie-Anfall zu unterdrücken.

Eines der Models bei Courrèges trägt einen so kurzen Rock, dass ich mich verblüfft frage, wo es sein Hinterteil gelassen hat. Dann fällt mir wieder ein, dass Models keine Hinterteile haben.

Wahres Glück findet man nicht in der Front Row

Ich habe Verwandte in Paris. Cyril, der Cousin meiner Mutter, lebt hier und hat mich zum Abendessen eingeladen. Wir haben uns bisher nur zweimal gesehen, und das eine Mal war ich ein paar Monate alt. Aber ich merke sofort, dass wir Familie sind, und habe das Gefühl, ihn mein Leben lang gekannt zu haben. Cyril wohnt mit seiner Frau Louise und seinem 10 Monate alten Baby in einer winzigen Wohnung im 10. Arrondisement. Es gibt auch eine Katze namens Yoda, die mich allerdings so böse anfaucht, dass ich sofort wieder an den Producer bei Dries van Noten denken muss. „Nimm’s nicht persönlich“, sagt Cyril. „Zu mir ist sie auch so. Manchmal habe ich das Gefühl, in der Wohnung meiner Katze zu wohnen.“

Der putzigste Mensch, den ich je gesehen habe, ist das Baby. Es ist quietschfidel und hat gerade gelernt, was passiert, wenn man eine Rassel auf den Boden schmeißt: es rasselt. Ein tolles Spiel, das man, wenn es nach dem Baby geht, unendlich wiederholen kann. Wir essen Lasagne und trinken Wein und das Baby sitzt auf meinem Schoß und steckt seine kleinen Hände in meinen Mund. Es gibt keinen Ort, an dem ich gerade lieber wäre, und nichts, was mir gerade mehr egal ist, als teure Kleider und Front-Row-Sitzplätze. Auf meinem Schoß sitzt ein Baby. Ich kann Lasagne essen, bis ich satt bin. Ich stelle fest, wie wichtig es ist, ein Leben abseits der Mode zu haben, Menschen, die einen daran erinnern, dass die Welt nicht untergeht, wenn man das Falsche anhat oder nicht eingeladen wurde.

Cyril und Louise haben im Fernsehen von der Show von Marine Serre erfahren. „Ich fand die Designerin interessant“, sagt Louise. „Aber die Klamotten waren doch nicht schön!“ Ich versuche ihr zu erklären, dass die Aufgabe der Mode darin besteht, die Definition von Schönheit immer wieder in Frage zu stellen und neu auszuloten. Aber irgendwie hat sie auch Recht. Ich würde die Kleider von Marine Serre auch nicht anziehen. Ein Kleid aus Teppich? Darin würde ich mir doch vorkommen wie damals in der 8. Klasse, als ich in einem selbstgenähten Rock aus Vorhangstoff in die Schule ging. Ich bin sehr froh, dass diese Zeiten vorbei sind.

Um Mitternacht stehe ich in meiner Wohnung und versuche verzweifelt, aus meinen Stiefeln herauszukommen. Als ich gerade erwäge, sie mir schweren Herzens mit einer Schere von den Füßen zu schneiden, setzt sich das Leder endlich in Bewegung.

Tag 3: Drei Dinge, die man braucht, um die Modewoche zu überleben

Wenn man es recht bedenkt, sind an der Fashion Week nur die Schauen glamourös. Die Kleider sind toll, die Models sind schön, die Menschen in der Front Row sehen gut aus, aber hinterher fährt man mit der U-Bahn nach Hause. Außerdem sehen die Leute gar nicht soooo gut aus. Viele haben Mundgeruch, entweder, weil sie nicht genug essen oder zu viel Kaffee trinken. Ich vermute auch, dass die meisten vom vielen Herumgerenne verschwitzt sind und deshalb stinken.

Mein persönliches Survival-Kit für die Modewoche besteht aus zuckerfreien Kaugummis, Desinfizierungstüchern von Air France und einem Handyladekabel. All das passt in meine kleine Comme-des-Garçons-Clutch, mit der ich mich am nächsten Morgen auf den Weg mache. Ich trage einen Nadelstreifenanzug von Yves Saint Laurent (letztes Jahr in einem Berliner Vintageladen abgestaubt), darunter ein trägerloses, drapiertes Top, das ich mir vor vier Jahren in New York gekauft habe und das schon einige Fashion Weeks mitgemacht hat, traubenförmige Ohrringe, meine gute alte Leopardentasche von Fendi, eine Perlenkette, die ich für 7 Dollar in einem Army Shop am Washington Square erstanden habe, Armbänder aus einem Beiruter Vintage-Laden, und Sneakers von Veja. Bis auf die Schuhe ist alles Second Hand.

Mein Oberteil 2018 in Paris…
… und 2015 in Paris… (Bild: Tommy Ton)
…und 2014 in New York! (Bild: The Sartorialist)

Auf dem Weg zum Grand Palais sehe ich einen Obdachlosen mit einer Angel, an deren Haken ein leerer Pappbecher hängt.

Für die Show von Paco Rabanne habe ich erst eben per Mail die Information erhalten, dass ich auf der Liste stehe. Das sieht die PR-Frau am Eingang des Grand Palais aber anders. Sie hat ein winziges Mikrofon in der Hand, durch das sie die Ankunft jedes illustren Gastes mitteilt: „Angelo Flaccavento“, „Tim Blanks“, „Vanessa Friedman“. Ob man eines Tages meinen Namen – „Claire Beermann ist da!“ –  durchgeben wird? Sie wedelt mich wie eine lästige Fliege zur Seite und redet weiter in ihr Mikrofon und irgendwann darf ich dann doch rein.

Willkommen in der Sauna! Der Schauplatz von Paco Rabanne

Die Show findet in einem von circa fünfhunderttausend Glühbirnen illuminierten schwarzen Tunnel statt, was sehr schön aussieht, aber leider für eine Raumtemperatur von 40 Grad sorgt. Anna Wintour ist schon wieder rausgegangen, wahrscheinlich übersteht ihre Frisur die Wärme nicht. Ich frage mich, ob Anna Wintour zum Erhalt ihres Bobs auch nur an Orten Urlaub macht, an denen es nie wärmer als 20 Grad wird. In einem Porträt über Valentino Garavani habe ich mal gelesen, dass der Designer die Innenräume seiner Jacht stets auf 15 Grad heruntergekühlt, weil er Schweiß hasst. Modeleute sind komische Vögel.

Paco Rabanne! (Quelle: Vogue Runway)

Die Kollektion von Paco Rabanne ist mein Highlight der Woche. Der Designer Julien Dossena erzählt hinterher, er habe es in diesem Sommer nicht geschafft, in den Urlaub zu fahren, und sei deshalb im Kopf verreist. Die Kollektion sei davon inspiriert: ein Mix aus Kleidern und Accessoires, die aussehen wie Urlaubssouvenirs, und Klassikern wie Blazer, Loafer und Strickjacke. Ich merke mir die klimpernden Gürtelketten mit Münzanhängern und das Spitzenhemd unterm Business-Blazer. Die Prêt à Porter von Paco Rabanne ist immer spannend, nur scheint sie leider vor allem dafür da zu sein, das Parfumgeschäft der Marke zu fördern, man kann die Sachen nämlich nirgendwo kaufen.

Wie die Fashion-Week-Diät funktioniert

Prinzipiell werde ich immer misstrauisch, wenn mir Leute erzählen, sie hätten „vergessen“ oder „keine Zeit“ gehabt, zu essen. Heute ist der Tag, an dem ich verstehe, was sie meinen. Bis zum Nachmittag habe ich durchgehend Termine, und die Zeit dazwischen verbringe ich damit, von einer Schau zur nächsten zu radeln. Wann soll man da noch essen?

Heiße Hosen bei Y/Project

Nach der Show von Y/Project, wo ich netterweise in der Front Row sitzen und die geradezu barocken Dekolletés, die raffinierten Jeanshosenröcke und die Blumenhemdchen mit capeartiger Draperie aus nächster Nähe betrachten darf, muss ich am anderen Ende der Stadt ein Paar Stiefel für ein Shooting für Man Repeller abholen (coming soon!). Es ist mittlerweile 16 Uhr 30 und ich habe, abgesehen von einem winzigen Canapé und einem Glas Birnensaft bei der Präsentation von Roger Vivier, seit 8 Uhr früh nichts mehr zu mir genommen. Ich fahre also zurück in mein Airbnb-Apartment, esse zwei Portionen Haferflocken, schleppe mich satt und ein bisschen träge zurück zur U-Bahnstation, schwitze im überfüllten Wagon meinen Nadelstreifenanzug nass, hole die Schuhe ab, bringe sie in die Wohnung und mache mich auf den Weg zur Show von Rick Owens.

Mein superglamouröses Mittagessen

Wie man an einen Platz in der Front Row kommt

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, an einen Platz in der Front Row zu kommen.

Möglichkeit 1: Man ist Christiane Arp, die Chefredakteurin der deutschen Vogue, die wie die meisten Chefredakteure immer in der ersten Reihe sitzt. Gerüchten zufolge hat man ihr bei Oscar de la Renta mal einen Platz in der zweiten Reihe angeboten, woraufhin sie ohne eine Wort auf dem Absatz kehrt gemacht und den Raum verlassen haben soll. Das kann man divenhaft finden, aber ich kann sie verstehen. Außerdem mag ich Christiane Arp. Ich finde, sie sieht ein bisschen so aus wie eine Heilige in Designerklamotten. Und sie nickt mir immer freundlich zu und sagt Hallo. Sehr viele andere Modeleute tun dagegen so, als würden sie einen nicht kennen, obwohl man einander schon dreimal vorgestellt wurde.

Möglichkeit 2: Man ist ein sehr viel kleineres Licht als Christiane Arp, hält sich selbst aber für wahnsinnig wichtig und meint deshalb, ein Anrecht auf die Front Row zu haben. Es gibt einen deutschen Stylisten ausgewachsenen Alters, der tatsächlich jedes Mal, wenn man ihn nicht in die erste Reihe gesetzt hat, bei der zuständigen PR-Agentur anruft und herumbrüllt, sodass er in der nächsten Saison garantiert wieder in der ersten Reihe sitzt. Ich weiß nicht, was dieser Mann für Probleme hat, aber sie müssen schlimm sein. Wahrscheinlich war er früher in der Schule wahnsinnig unbeliebt.

Möglichkeit 3: Man hat eigentlich einen Stehplatz oder schlechten Sitzplatz in der dritten Reihe, wird aber kurz vor Beginn der Show von einem gnädigen PR-Agenten auf einen frei gebliebenen Front-Row-Platz gesetzt. Oder man hat, noch besser, selbst im richtigen Moment reagiert und sich einfach kokett in die erste Reihe gezwängt, wo meistens immer noch ein Platz frei ist (für den Fall, dass spontan Rihanna auftaucht, vermute ich). Man muss das natürlich vor anderen Leuten tun, die die gleiche Idee haben, aber auch nicht zu früh, um das Risiko zu vermeiden, den Platz doch noch für Rihanna räumen zu müssen (peinlich!).

Die Show von Rick Owens findet im Hof des Palais de Tokyo statt. Ich komme kurz vor Beginn an, und direkt vor meinem Zweite-Reihe-Platz sitzt niemand – als setze ich mich schnell dorthin. So kann es gehen. Gestern hatte man mir noch mitgeteilt, Rick Owens hätte leider keinen Platz für mich. Heute morgen kam die Nachricht, ich dürfe doch kommen, und jetzt sitze ich in der Front Row. Easy!

Die Show von Rick Owens im Palais de Tokyo

Unter uns: Ich habe Rick Owens noch nie verstanden. Alle finden ihn ja so interessant, aber ich kann mit seinen kniehohen Sneakern und diesen komischen Umhängen nicht viel anfangen. Dafür sind seine Schauen immer spektakulär. Die Musik ist so laut, dass ich fast von der Front Row kippe, als sie plötzlich angeht. Als ein Model mit halb über dem Kopf gezogenen Pullover an mir vorbeiläuft, stelle ich fest, dass das riesige Gerüst in der Mitte des Hofes zu brennen angefangen hat. Wie konnte ich das nicht mitkriegen? Gehört das so? Bald brennt das ganze Ding, und mir wird extrem warm. Haben die das unter Kontrolle? Ich mache ein Video für die Nachwelt.

Nach der Rick-Owens-Show verspüre ich das dringende Bedürfnis nach einem Kontrastprogramm. Ich habe eine knappe Stunde bis zur Isabel-Marant-Show. Auf einem Vélib-Fahrrad rase ich in entgegengesetzter Richtung durch viele Einbahnstraßen zum Kaufhaus Le Bon Marché. Eigentlich dürfte man mich nicht auf den Straßenverkehr loslassen, meine Fahrkünste sind gemeingefährlich. Ich bin die Geisterfahrerin von Paris.

Ich kaufe die rosa Handtasche. Stelle fest, dass sie ein kleines bisschen dem Hello-Kitty-Täschchen ähnelt, mit dem ich vor 20 Jahren in den Kindergarten gegangen bin.

Meine neue Handtasche

Bei Isabel Marant sitze ich neben der Chefredakteurin der deutschen Grazia, die mir rät, mich bald um meine Altersvorsorge zu kümmern.

Tag 4: Was Hedi Slimane mit Donald Trump gemein hat

Am nächsten Morgen muss ich vor der Loewe-Show noch meine Airbnb-Wohnung räumen. Die letzte Nacht werde ich bei Myrna, der Schwester von Cyril, die etwas außerhalb wohnt, übernachten, und von dort morgen nachmittag zum Flughafen fahren. Ich bin ein bisschen wehmütig, dass dies mein letzter Tag in Paris ist, andererseits reicht es mir langsam auch. Ich frage mich, wie die Leute vier Fashion Weeks am Stück überstehen.

Loewe! (Quelle: Vogue Runway)

Die Show von Loewe findet im UNESCO-Hauptquartier statt, einem fantastischen Gebäude, das Oscar Niemeyer entworfen hat. Für die Show wurden die verschiedenen Räume, durch die die Models laufen werden, mit Skulpturen der Künstlerin Lara Favaretto bestückt. Es gibt riesige, rotierende Bürsten, die aussehen wie aus der Autowaschanlage geklaut, und Keramiktöpfe, die sich auf Schallplatten drehen. Vor dieser Kulisse zeigt Jonathan Anderson eine Art futuristischen Wüstenlook: riesige Makramee-Taschen, Weltraumbrillen, Maxikleider und übergroße Hemden aus Wildleder. Es sind gar nicht so sehr die Kleider, die mich an diesem Morgen faszinieren – es ist das Gesamtkunstwerk, diese regelrechte Ästhetik-Explosion. Als aus den Lautsprechern das Stück „Spring 1“, eine von Daniel Hope und Max Richter neu eingespielte Version von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ ertönt, bin ich so ergriffen, dass mir fast die Tränen kommen.

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Hinterher ist der ganze Zauber wieder weg, vor der Tür posieren dreihundert identisch aussehende Influencer in ihren Loewe-Komplettlooks, die Fotografen drehen durch. Das wäre dann die weniger poetische Seite der Modewelt von heute.

Am Abend findet die für mich letzte Show dieser Woche statt: Celine. Hedi Slimane hat den accent aigu (vorher hieß es „Céline“) entfernt. Die Show ist seit Anfang der Woche Thema Nummer Eins in Paris. Wird Slimane eine Kollektion zeigen, die in irgendeiner Form an Phoebe Philos Erbe anknüpft? Oder das machen, was er immer macht: Minikleider, Lederjacken, Schnallenstiefel, also das, was The Kooples seit Jahren von ihm kopiert? Ich ahne Schlimmes, freue mich aber wie ein Wiesel, als ich mit meiner Einladung an jenen Sehnsüchtigen vorbeimarschieren darf, die ohne Ticket an der Absperrung darauf hoffen, durch einen glücklichen Zufall doch noch reingelassen zu werden. Unglaublich, denke ich, während ich versuche, mir meinen Triumph nicht anmerken zu lassen – wie schnell man vergisst, wie oft man selbst dort stand und in der Kälte zitterte, ohne Einladung (ohne Würde?) und von geladenen Gästen mit einem spöttisch-mitleidigen Blick bedacht wurde, bevor sie eilig ins Warmen stöckelten. Ich wollte nie so werden.

Drinnen herrscht finstere Nacht. Das macht es einfach, sich von der vierten in die dritte Reihe auf einen Platz am Ende der Bank zu schummeln, dort, wo man durch einen schmalen Gang eine passable Sicht auf den Laufsteg hat. Neben mir im Gang stehen zwei Frauen mit aufgespritzten Lippen und nippen an Mini-Champagnerflaschen. Ich erkläre ihnen, dass sie da nicht stehen bleiben können, weil ich sonst nichts sehe. Ich erschrecke über meine eigene Garstigkeit. Dann geht die Show los, um mich herum recken ALLE außer mir ihre Telefone in die Luft, und aus der Öffnung eines riesigen Haufens aus silbern-verspiegelten Kuben steigt ein in eine gepunktete Schleife verpacktes Model mit sehr krank aussehenden Beinen. Es folgen schwarze Motorradstiefel, an goldenen Ketten baumelnde Handtaschen, die aussehen wie von Zara, Minikleider, Miniröcke, Miniblazer. Ich kenne keine Frau, die diese Sachen tragen könnte, ohne sich unwohl zu fühlen und ständig überprüfen zu wollen, ob nicht doch irgendwo eine Pobacke oder Hautfalte herausspäht. Phoebe Philo entwarf Kleider, in denen man sich geschützt und gestärkt vorkam, aus Kaschmir, das wärmte, aus Silhouetten, die schmeichelten und dabei interessant waren. Es waren Kleider, die Frauen ernst nahmen. Die Frauen in Slimanes Celine sehen aus, als würden sie jede Minute zusammenbrechen.

Hinterher jubelt der halbe Raum, während die andere Hälfte unter Schock steht. In der Financial Times wird Jo Ellison die Situation mit den US-Wahlen vergleichen: „You can feel all the fuzzy-edged nostalgia you want for Obama, but that doesn’t change the fact we got a Trump.“

Um kurz vor 22 Uhr hole ich meinen Koffer, tausche mein Fashion-Week-Outfit gegen Jeans, Ringelhemd und Mantel ein, schleppe meine Sachen in die U-Bahn und fahre bis zur Endstation der Linie 5. Es ist 23 Uhr. Am Bahnhof von Bobigny stehen Hochhäuser, Paris fühlt sich weit weg an. Ich zerre meinen Koffer durch menschenverlassene Straßen. Auf dem Bürgersteig sehe ich im orangefarbenen Licht der Straßenlaterne einen schwarzen Lederhandschuh liegen. Er sieht aus wie das Indiz eines Kriminalfalls. Wie viele Geschichten Kleider erzählen können, denke ich. Dann bin ich bei Myrna angekommen.

Und das, meine Lieben, war die Fashion Week in Paris.

Headerbilder: Phil Oh/Vogue.com und Jonathan Daniel Pryce/Vogue UK