Demokratisierung der Mode: was bedeutet das?

In diversen Artikeln über Modegeschichte und die Entstehung bestimmter Trends und deren Entwicklung fällt gar nicht selten die Formulierung „Demokratisierung der Mode“. In meinem letzten Beitrag über die aktuelle Kooperation zwischen dem Massenmodegiganten H&M und dem italienischen Luxuslabel Versace bezeichnete ich diese limitierte und relativ(!) erschwingliche Sonderkollektion als „demokratisch“. Dass sich einige Leser mit dieser Beschreibung kritisch auseinandergesetzt haben, finde ich sehr interessant und anregend – es macht Spaß und ist für mich sehr lehrreich, konstruktives Feedback zu meinen hier niedergeschriebenen Gedanken zu erhalten.

Um der Frage, ob man Mode tatsächlich als „demokratisch“ bezeichnen kann, einmal näher auf den Grund gehen zu können, ist zunächst eine Erläuterung der Begriffsherkunft sinnvoll. Demokratie, dieses Wort kommt aus dem Griechischen, und setzt sich aus δῆμος und Κράτος zusammen; démos bedeutet „Volk“, kratos „Macht“ oder „Stärke“. Wortwörtlich spricht man bei der Demokratie also von der Macht des Volkes.

Zur genauen Klärung der Bedeutung dieses Begriffs lohnt sich weiterhin ein Blick in Meyers Lexikon, hier lese ich folgendes:

Demokratie: Volksherrschaft, eine Form des politischen Lebens, die von der Gleichheit und Freiheit aller Bürger ausgeht und die Willensbildung der Gemeinschaft oder des Staates vom Willen des gesamten Volkes ableitet (…) Grundbestandteile einer demokratischen Verfassung sind allgemeine, freie, geheime und in bestimmten Mindestabständen stattfindende Wahlen, die Verteilung der drei Hauptaufgaben staatlicher Machtausübung und die Garantie der Grundrechte.

Und, wenn wir schon dabei sind, was versteht man denn unter der Demokratisierung? Dazu informiert mich mein schlaues Lexikon:

Demokratisierung: politisches Schlagwort für die Forderung, auch im nichtstaatlichen Bereich (z.B. in Wirtschaft, Schule, Universität) eine demokratische Willensbildung und Beschlussfassung herbeizuführen, also die im jeweiligen Bereich Tätigen am Entscheidungsprozess teilnehmen zu lassen.

Streng genommen, da möchte ich meinen geschätzten, kritischen Lesern Recht geben, kann die Aussage, dass Mode demokratisch sein bzw. demokratisiert werden kann, nicht stimmen. Denn niemand von uns, kein Volksvertreter, stand neben Donatella am Schneidertisch, als sie die Kollektion für H&M entwarf, und erst recht hat keine Volksmehrheit dafür oder dagegen gestimmt, dass Goldknöpfe, Palmendrucke und feine Seidenstoffe verwendet werden sollten. Oh nein, das hat Signora Versace selbst entschieden.
Aber niemand zwingt uns, das zu kaufen, was nun in weltweit knapp 300 H&M-Filialen von den Stangen baumelt. Und ebenso verbietet es uns niemand. Wir dürfen frei entscheiden, ob wir eines der knalligen Kleidchen erstehen wollen. Genau wie jeden Morgen, wenn wir vor dem Kleiderschrank stehen. Wir haben immer die Wahl. Theoretisch dürften wir einen Sack überziehen, oder uns in Klopapier wickeln, jeder Mensch darf so gut wie alles anziehen, was er möchte, Punkt.
Das wiederum bedeutet nun aber natürlich längst nicht, dass jedem Menschen auch jede Art von Kleidung zugänglich ist. Genau hier entsteht schließlich auch die Frage, ob man Mode tatsächlich als demokratisch bezeichnen kann. Ein Spaziergang über die Maximilianstraße in München, ein kleiner Abstecher zu Barney’s oder auch der Mausklick zu net-a-porter vergegenwärtigen uns Ottonormalverbrauchern mit überschaubarem Budget, dass es haufenweise Klamotten gibt, die sich vielleicht ein paar Handvoll Frauen auf diesem Planeten leisten können. Diese Mode ist exklusiv, der wohlhabenden Upper Class vorbehalten, und wer das Geld nicht hat, darf eben nicht mitmachen, Pech gehabt. Von wegen demokratisch!
Diese gegenwärtige Tatsache erinnert stark an eine Zeit, die bis in das vergangene Jahrhundert hineinreichte und in der es schlicht und ergreifend keine „schöne“, aktuelle Mode für Frauen und Männer bürgerlicher und ärmlicher Milieus zu kaufen gab.
Denn erst in den 1920er Jahren kam die Konfektionskleidung auf, in allen Preisklassen käuflich, die es nun auch materiell weniger gut gestellten Menschen ermöglichte, sich modisch zu kleiden. Gertrude Lehnert, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, schreibt dazu in ihrem Buch „Mode – Ein Schnellkurs“:

Die Mode der 1920er Jahre knüpft an Tendenzen der Vorkriegszeit an und demokratisiert sie. Was bei Poiret noch reichen, müßigen Gesellschaftsdamen vorbehalten war, entwickelt sich nun weiter zur modernen Kleidung für die aktive Frau. (…) In den 1920er Jahren sind die Produktion und Distribution der Mode für deren Demokratisierung verantwortlich…

Die massentaugliche Herstellung von modischer Kleidung sowie die damit einhergehende Erschwinglichkeit jener Mode für alle Leute sorgte also für ihre Demokratisierung, was in diesem Kontext bedeutet, dass sie an ein breiteres Publikum, an das Volk gelangte, und dass nun mehr Menschen frei wählen und entscheiden konnten, was sie kaufen und tragen wollten.
Ist es nun, auf der Grundlage dieser Recherche, nicht also doch gerechtfertigt, die von Versace für H&M entworfene Kollektion als demokratisch zu bezeichnen? Sehen wir hier nicht eine sehr ähnliche Entwicklung wie damals in den 20er Jahren: finanziell eingeschränktere Fashionistas dürfen nun auch perfekt geschnittene Seidenbustiers tragen, genau wie Fräulein Stinkreich-Hilton, diese Mode liegt nun plötzlich auch innerhalb ihrer Wahlmöglichkeiten – sehen wir darin nicht eine deutliche Tendenz zu einer Demokratisierung der Mode?
Natürlich ist ein nietenbesetztes Kleid für 179€ noch lange nicht für jedermann zu finanzieren. Doch die Kundin, die diese Summe Geld aufbringen kann und will, ersteht dabei immerhin ein Versace-Stück aus echter Seide, dass zudem zwar in China oder Rumänien gefertigt wurde, jedoch unter streng von H&M vorgeschriebenen Bedingungen. Das schwedische Unternehmen verfügt nämlich, wie mir bei der Hamburger Geschäftsstelle versichert wurde, über einen Verhaltenskodex, den alle Produzenten und Lieferanten weltweit zu unterzeichnen haben und der beispielsweise die Forderung nach sicheren Arbeitsplätzen, geregelten Löhnen und Arbeitszeiten, die Einhaltung von Hygiene- und Brandschutzvorschriften und ein absolutes Verbot von Kinderarbeit beinhaltet. Dies wurde allein im Jahr 2010 in fast 2000, teils unangemeldeten Kontrollen überprüft.
Wären diese hübschen bunten Versace-Kleidern nun günstiger, und damit einer noch breiteren Masse zugänglicher, welchen Produktionshintergrund hätten sie dann wohl? Noch preiswerter und dennoch ethisch vertretbar und einigermaßen hochwertig (über die Qualität kann man ja streiten, ich persönlich bin mit meiner palmenbedruckten Stretch-Jeans sehr zufrieden) kann es eigentlich nicht gehen.
Ich finde die aufgeworfenen Fragen bezüglich der von mir so gepriesenen „Versace for H&M“-Kollektion angemessen und gerechtfertigt. Es ist positiv zu beobachten, dass die Leser dieses Modeblogs sich offenbar tiefergehende Gedanken zu den hier veröffentlichten Artikeln und zu meinem subjektiven Meinungsbild machen. Und auch ich halte es für sehr wichtig, nicht alles, was uns die Modewelt an schönen, luxuriösen, letztlich überflüssigen Konsumgütern andrehen will, tatsächlich zu kaufen – zumindest nicht, ohne darüber nachzudenken, woher es kommt und unter welchen Bedingungen es produziert wurde. Aber sitzen wir nicht alle an in Fernost gebauten Computermodellen? Spielen unsere Nachbarskinder denn nicht mit Bauklötzen oder Puppen aus Bangladesh? Es ist schwierig, heutzutage „fair“ einzukaufen, weil viele Menschen gerne sparen und Billiges erstehen, egal, woher es kommt und wie es produziert wurde. Auch diese Einstellung ist vielleicht eine Folge der Demokratisierung des Konsumierens, ganz gleich, ob es sich dabei um Handtaschen, Bohrmaschinen oder Bananen handelt.
Gutes aber kostet eben. Im Falle von Versace für H&M sogar noch vergleichsweise wenig. Sehr demokratisch. Oder nicht?