Oh wie schön ist Osteuropa!

Der Hauptplatz, Rynek Glowny, in Krakau

Wo beginnt eigentlich Osteuropa? Wer sich auf die Reise durch dieses weit gespannte, auf unserem Kontinent noch immer leicht misstrauisch beäugte Gebiet begibt, dem stellt sich diese Frage unweigerlich irgendwann. Natürlich kommt es hierbei zum einen auf den Blickwinkel, die rein geografische Perspektive des Betrachters an. Doch andererseits sind wir Zentraleuropäer, als die wir Deutschen uns ja selbstverständlich sehen, auch oft von subjektiven Vorurteilen geprägt: Vielen erscheint beim Gedanken an „den Osten“ eine graue Betonlandschaft auf Dritte-Welt-Niveau vor Augen. Wo also soll er liegen, wo beginnen, dieser verpönte Landstrich?

Der Osten – so wirklich will im modernen und glamourösen Europa niemand diesem einst so tristen, isolierten Gebiet angehören. Und dorthin reisen, dort gar Urlaub machen? Als wir, meine beste Schulfreundin Mira und ich, mit der Planung unserer individuellen Abiturreise begannen, schwebte uns zunächst eine Interrail-Tour von einer exklusiven Metropole zur nächsten vor – Amsterdam, Brüssel, Paris, Barcelona, Nizza, Florenz. Nicht gerade die bescheidenste Route, bedenkt man doch, dass wir momentan im Prinzip nichts anderes als Arbeitslose sind. Und überhaupt: sollte sich ein waschechter, munterer Schulabgänger in den ersten, berauschenden Wochen der Freiheit nach dem Abitur denn nicht eigentlich an wildere Abenteuer als eine luxuriöse Fahrt durch das feine Westeuropa heranwagen?
Plötzlich erschienen uns die östlichen Gefilde weitaus spannender als Paris und Barcelona, und so machten wir uns an einem frühen Sonntagmorgen Mitte Juni auf zur ersten Station: Dresden.

Welch eine Stadt! Der inoffizielle Beiname der sächsischen Hauptstadt, „Elbflorenz“, ist wohl verdient: Entlang des Flussufers reihen sich malerisch die herrlichsten barocken Bauten, die selbst internationale Kunstkenner ins Schwelgen bringen sollten. In der Äußeren Neustadt bezogen wir den schmucken Mondpalast, ein lässiges Hostel mitten im coolsten Viertel Dresdens, und lernten innerhalb weniger Stunden einen sympathischen Studenten nach dem anderen kennen, hin und wieder auch mal einen im farbbespritzten Outfit und mit leichter Bierfahne mitten auf der Straße tanzend, denn wie es der Zufall will, waren wir just zum Ausklang des Stadtteilfests BRN (Bunte Republik Neustadt) angereist. Beim spontanen Elektro-Rave direkt vor unserer Hosteltür, wo irgendein DJ sein Lager aufgeschlagen hatte, kamen wir dann erst richtig in Berührung mit dem einzigartigen Geist dieser Stadt, die frei nach dem Motto zu leben scheint: tu einfach, wonach dir gerade ist. Tanz barfuss auf der Straße, mach dich zum Affen, ist doch egal wie du dabei aussiehst, das Leben ist schön.

Nach zwei Tagen in dieser traumhaften, lustigen Stadt, die uns mit ihrem nonchalanten Charme keineswegs „östlich“ vorkam, reisten wir weiter, mitten hinein ins partywütige Prag. Ob wir hier nun schon in Osteuropa waren? Der junge, ziemlich coole Eigentümer des wohl angesagtesten Conceptstores Tschechiens, nämlich BOTA, zeigte sich jedenfalls reichlich empört, als wir ihm fröhlich erzählten, derzeit im Rahmen unserer „Osteuropa-Tour“ auch in Prag unterwegs zu sein. Aber hallo, Prag läge ja wohl nie und nimmer in Osteuropa! Allerdings sei hier angemerkt, dass neuerdings auch die Moldawier selbstbewusst von sich behaupten, einem zentraleuropäischen Staat anzugehören. (Wo lag Moldawien noch gleich? Ach ja. Zwischen Rumänien und der Ukraine.)

Doch der junge Hipster im BOTA-Store behielt Recht. Wir hatten uns keine zwei Stunden in Prag aufgehalten und waren bereits von dem Gefühl ergriffen, uns in einer hübschen mediterranen Metropole zu befinden. Natürlich liegt Prag von Deutschland aus betrachtet im Osten, doch flaniert man einmal durch die Gassen der tschechischen Hauptstadt, lässt das einzigartige, unprätentiös entspannte Flair, die Schönheit  der historischen Architektur und die Eleganz der Burg, hoch oben über den Dächern des goldenen Prags, auf sich wirken, so ist das Vorurteil von der osteuropäischen Betonwüste schnell vergessen.

Während man sich in Prag oftmals, ähnlich wie in Dresden, an Florenz oder Bologna erinnert fühlt, so glaubt der Reisende in Budapest zunächst, in einer etwas schäbigeren, aber durchaus ebenso reizvollen Variante von Paris gelandet zu sein. Die breiten Boulevards, gesäumt von herrschaftlichen Häuserblocks; lauschige grüne Plätze mit barocken Springbrunnen; der glitzernde Donaustrom,  an dessen Ufer sich abends die junge Bevölkerung der Stadt tummelt und dabei die Aussicht auf die romantisch illuminierte Elisabethbrücke genießt – welch ein paradiesischer Ort! Ähnlich der französischen Hauptstadt und doch von ganz eigenem, unnachahmlichem Zauber, ist und bleibt Budapest mein unangefochtenes Highlight dieser insgesamt großartigen Reise. In Budapest verbinden sich auf raffinierte Art und Weise die Spuren des historischen Habsburgerreiches – weitläufige Plätze, kunstvoll gestaltete Gebäude – mit einer pittoresken Schäbigkeit als Relikt aus der sozialistischen Vergangenheit Ungarns, und mit einer ungemein erfrischenden, jugendlichen Spritzigkeit und nie aufgesetzten, souveränen Modernität, die sich in den zahlreichen originellen Cafés, Bars und Geschäften, vor allem im Viertel Pest, wunderbar auskosten lässt.

Auf der anschließenden, siebenstündigen Busfahrt von Budapest nach Krakau folgte allerdings eine kurzweilige Ernüchterung. Flankiert von drei äußerst mürrischen und rundlichen ungarischen Damen, die mit offenbar unstillbarem Hunger pausenlos Fleischpasteten und andere stinkende Köstlichkeiten verspeisten und damit die ohnehin erdrückende Luft in unserem Reisevehikel zusätzlich verpesteten, durchquerten wir einige wahrlich deprimierende, slowakische Dörfer, die zumindest äußerlich meiner auch nicht ganz vorurteilsfreien Fantasie eines durch und durch düsteren Osteuropas bedenklich nahe kamen. Dabei liegt die slowakische Pampa natürlich keineswegs östlicher als das mir so charmant erschienene Budapest. Wer sich auf diese Reise von Dresden über Prag, Budapest und Krakau bis hinauf nach Danzig begibt und dabei auch die weniger ansprechenden Gegenden zwischen den Städten nicht meidet, der wird wohl erkennen: die Grenzen zwischen Ost und West verlaufen heute nicht mehr vertikal. Auf der einen Seite präsentieren sich zahlreiche größere Orte, die einst dem ehemaligen Ostblock angehörten, nun in einem derart weltoffenen und modernen Licht, das die negative Vergangenheit der entsprechenden Länder schnell vergessen lässt. Doch dass diese „westlich“ orientierte Gegenwart in den ländlichen Gebieten oftmals noch nicht angekommen ist, ist natürlich verständlich.

Sobald wir allerdings in Krakau angekommen waren, ward an die Tristesse der slowakischen Einöde  kein einziger Gedanke mehr verschwendet – viel zu entzückt waren wir nämlich alsbald von diesem hübschen Städtchen in Südpolen! Gemächlich tuckert im von zahlreichen Studenten bewohnten Krakau die alte Straßenbahn rund um den Altstädter Ring, der das historische Stadtzentrum einschließt. Auf dem Hauptplatz Rynek Glowny, der sich ebenso gut Piazza nennen könnte und ein klein wenig an den venezianischen Marcusplatz erinnert, befinden sich die berühmten Tuchhallen mit ihren hübschen Arkaden, dort findet die einkaufsfreudige Touristin Lederhandschuhe zu budgetfreundlichen Preisen, Fellwesten, Handtaschen und allerlei weiteren Schnickschnack.

Hat man den lebendigen Platz, auf dem bei Tag und Nacht auch häufig wahrlich talentierte Breakdancer oder Straßenkünstler auftreten, einmal verlassen, so verirrt man sich schnell im Wirrwarr der kleinen Gassen und Straßen, in denen sich Milchbars (köstliche Piroggen und Pfannkuchen gibt es zum Beispiel in der „Milkbar Tomazsa“), Pubs und Geschäfte nahtlos aneinander reihen.
Krakau ist das perfekte Anlaufsziel für die entspannte und zugleich keineswegs langweilige Variante des Städtetrips. Nach dem lauten, großen und vor allem überhitzten Budapest genossen wir das gemütliche Flair der Stadt bei angenehmen 20°C und flanierten natürlich auch durch das junge, einst jüdische Viertel Kazimierz, für das allein man eigentlich eine ganze Woche Aufenthalt einplanen sollte, damit man jedes einzelne Café, eines ansprechender als das andere, einmal besuchen kann.

Und schließlich, zu guter Letzt, erreichten wir Danzig im Norden Polens, direkt an der Ostsee gelegen. Erschöpft von zwei Wochen intensivstem Sightseeing, verbrachten wir unseren Aufenthalt hier hauptsächlich am überwiegend von Einheimischen frequentierten Strand in Stogi, um zumindest doch noch einen Teil unserer herangeschleppten Reiselektüre durchzuarbeiten, die Blasen an unseren Füßen durch das Salzwasser heilen zu lassen, und ein klein wenig Sonnenbräune zu erhaschen. Auch hier blieb jegliches OsteuropaFeeling, auf das ich mich vor unserer Reise ein wenig misstrauisch eingestellt hatte, aus. Und nach bereits einem Tag am Meer sahen wir ohnehin eher nach Ibiza oder Capri aus als nach Nordpolen.

Wo also liegt Osteuropa? Bestimmt liegt es tatsächlich dort, wo wir waren, oder andersherum, die Orte, die wir besuchten, liegen in Osteuropa. Aber nur aus geografischer Sicht. Wenn es ums Reisen geht, bin ich, das gebe ich zu, recht verwöhnt, war bereits im Oman, in Indien, und in den berühmtem Metropolen Paris, Florenz, Rom, New York, San Francisco. Doch „der Osten“, wie ich ihn nun kennen lernen durfte, hat mich nicht minder verzaubert, und somit ist die Liste an Städten, die ich unbedingt wieder besuchen möchte, um fünf weitere gewachsen. Dieser Osten ist einzigartig und erfrischend, erfrischend cool – ohne sich viel darauf einzubilden.

Und da man es vor allem in Prag und Budapest auch shoppingtechnisch gesehen ganz gut aushalten kann, folgt hier nun demnächst ein ausführlicher Cityguide für beide Städte. Bis dahin – happy Berlin fashion week!

Herrliches Dresden!

Kreative Dresdner mit ungewöhnlichen Vorlieben

Happy Prag!

Die Elisabethbrücke (oben) und der Elisabethplatz (unten) in Budapest

Auf dem Rynek Glowny in Krakau