Herrenmode: wie viel Chic darf es da sein?

Alexander McQueen Fall 2012/13, via style.com

Der Abiball liegt nun zwei Wochen zurück, aber ich möchte trotzdem noch eine kleine Anekdote von dieser modisch betrachtet gar nicht uninteressanten Veranstaltung erzählen.
Pünktlich um achtzehn Uhr versammelte sich an diesem windigen Abend die geladene Gesellschaft, glamourös gestriegelte junge Damen schritten bedeutungsvoll den eigens zu diesem Anlass ausgerollten Teppich hinab und genossen das Sehen und Gesehenwerden. Die Herren natürlich, wie es die elegante Einladungskarte vorgeschrieben hatte, im dunklen Anzug. Aber nein, nicht alle. Ein Schlingel hatte es doch tatsächlich gewagt, trotz black tie im bordeauxfarbenen Smoking zu erscheinen. Einer der Initiatoren des Events, ein von mir sehr geschätzter, jedoch aus recht konservativem Elternhaus stammender Mitschüler, beklagte sich bei einem Glas Abiballfuselwein zu späterer Stunde über diesen Auswuchs menschlicher Dreistigkeit. Wie man denn zu einem Abiturball im roten Anzug erscheinen könne!

Der arme Junge stand mit dieser Ansicht allerdings recht einsam da, denn die meisten anderen Teilnehmer des Balls schienen außerordentlich angetan von der ungewöhnlichen Kleiderwahl des besagten Schlingels, oder zumindest im Positiven amüsiert. Monsieur Konservativ, übrigens ein Liebhaber großer Worte, aber dozierte: „Auf der Einladung stand nicht ohne Grund „Dresscode: dunkler Anzug“! Der Herr hat sich auf einer Abendveranstaltung dieser Art modisch zurückzuhalten, man überlässt aus Höflichkeitsgründen der Dame auf diesem Gebiet den Vortritt!“

Dieser Satz, emanzipationspolitisch und modetheoretisch von höchster Brisanz, hat bei mir einige Gedankengänge angestoßen. Seit vielen Jahren verfolge ich mit Begeisterung die Entwicklungen auf den Laufstegen der Männermode, auf denen sich zunehmend eine erfreuliche Extravaganz bemerkbar gemacht hat. Ähnlich wie im Barock, zu Louis XVI’s Zeiten, als Männer sich fast ebenso  herausputzten wie die Damenwelt, ist Mode auch heute nicht länger „nur Frauensache“. Und wer sich einmal die Kollektionen der Menswear auf style.com näher angeschaut hat, erkennt schnell: ein bordeauxroter Anzug ist noch gar nichts. Knallfarben, feminine Silhouetten, und üppige Details wie Blütenapplikationen gehören bei Alexander McQueen und 3.1. Philip Lim zum Standardprogramm.

Nun fragt man sich: was geschieht, wenn die Männerwelt in derart auffälligem Aufzug tatsächlich einmal zu einer feinen Abendgesellschaft erscheint? Die Bilder vom roten Teppich bei den Filmfestspielen in Cannes vor einigen Wochen zeigten wunderschöne Frauen in den herrlichsten Kleidern, stets flankiert von zurückhaltend in schwarze Garderobe gekleideten männlichen Begleitern. Es sind die Damen, denen dort der große Auftritt gebührt und die diese Aufmerksamkeit genießen sollen, nicht die Herren. Geht also der höfliche Respekt vor der Dame flöten, sobald mann nicht mehr im schwarzen, sondern plötzlich im orange getupften Outfit erscheint? Wollen wir Frauen die Emanzipation der Männermode wirklich, wenn der Preis dafür ist, dass uns selbst dann nicht mehr in Modedingen die volle Aufmerksamkeit, der große Auftritt, zuteil wird? Darüber sollte jede Ehefrau nachdenken, die ihren Gatten angesichts seiner ausgebeulten Jeans ausschimpft: je schicker der Mann wird, desto mehr erblasst die Dame.

Wollen wir das? Man kann an dieser Stelle unterscheiden zwischen dem gepflegten Auftreten und dem bewussten Interesse an der Mode. Täglich laufen mir in der U-Bahn oder an der Bushaltestelle so unglaublich viele schlecht gekleidete Männer (ja, natürlich auch Frauen) über den Weg, Geschäftsleute, die grelle Funktionsjacken und ausgelatschte Schuhe zum schlecht sitzenden Anzug kombinieren, oder, wie gerade neulich gesichtet, zum apfelgrünen Cordjackett greifen – da kann man redlich hoffen, dass der Männermode zukünftig zumindest ein klein wenig mehr Bedeutung beigemessen wird, dass sich Männer kleidungstechnisch wenigstens insofern anstrengen, als das Jacke und Hose ordentlich sitzen und einigermaßen zueinander passen.

Ein bewusstes Modeinteresse geht aber deutlich weiter. Ein Mann, der Wert auf modische Feinheit und Raffinesse legt, kann in seinem perfekten Äußeren einer Dame durchaus die Show stehlen. Ob wir Frauen das möchten, den Eintritt der Herren in eine weiblich dominierte Welt tolerieren wollen – um diese Frage geht es hier. In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist die Frau noch immer dem Mann unterlegen – warum also sollte sie ihn freundlich in die vielleicht einzige wirklich von ihr beherrschte Domäne einladen?

Zu bedenken ist allerdings: wer sich schick kleidet und Wert auf ein elegantes Outfit legt, macht nicht nur sich selbst, sondern auch anderen eine Freude, denn er hat sich damit offensichtlich Gedanken darüber gemacht, wie er seinem Gegenüber entgegentreten möchte – ein nicht allzu übertriebenes Modebewusstsein ist also auch eine Form des Respekts. Um zurück auf meinen Ausgangspunkt zu kommen: der Schlingel im roten Anzug hat ganz augenscheinlich bewusst über seinen Look nachgedacht, er hat sich Mühe gegeben. Er wollte auf bestimmte Art und Weise seine Mitmenschen beeindrucken, und hat zu diesem Zweck eben zum roten Anzug gegriffen. Ist das nicht, ganz weit um die Ecke gedacht, doch auch eine gewisse Art von respektvoller Höflichkeit?

Eines steht fest: von einem bordeauxroten Smoking lasse ich mir ganz bestimmt nicht den großen Auftritt vermasseln. Trotzdem ist Mode heute tatsächlich nicht mehr nur reine Frauensache – und das ist gut so. Denn in dem Moment, in dem sich der Herr für die Domäne der Dame zu interessieren beginnt, zeigt er doch auch eine deutliche Würdigung gegenüber diesem weiblichen Spezialgebiet. Das finde ich nett und höflich. Deshalb habe ich nichts gegen extravagante Herrenmode. Ich erfreue mich daran und fühle mich geehrt, dass hin und wieder auch einige Männer anfangen darüber nachzudenken, in welchem Aufzug sie uns Frauen begegnen wollen. Das kann ein schwarzer Anzug durchaus sein. Aber auch ein roter.