Berliner Begegnungen und klischeefreie Pelzjacken

Naty Chabanenko for Thomas Whiteside’s Elle US Shoot. Via fashiongonerogue.com

Neuerdings bin ich, wie bereits erzählt, wohnhaft in Berlin, und als zugezogene
Hanseatin gestaltet sich das Alltagsleben in dieser manchmal höchst
merkwürdigen Stadt natürlich als sehr spannend. Anders, als ich es aus meiner
Heimat Hamburg, einem Ort meist vornehmer Zurückhaltung und nordischem
Understatement, gewohnt bin, scheint man hier selbst mit wildfremden Menschen
einen erstaunlich offenen Umgang zu pflegen. Vielleicht liegt der Ursprung
dieser ungehobelten Lauterkeit in der Anonymität und Düsternis des
Großstadtmolochs, wer weiß.  Besonders in der U-Bahn bereitet es mir jedenfalls immer
wieder ein herrliches Vernügen, Zeuge der persönlichen Eigenarten meiner
Berliner Mitbürger zu werden.
Ein junger Mann betreibt dort im halbleeren Wagon emsiges
Schattenboxen (ohne Witz!), türkische Großfamilien führen lauthals
Diskussionen, ein Pärchen berät ernsthaft, was es zum Abendessen geben könnte,
nachdem „die Katzen alle Würstchen aufgegessen haben“ (ich lausche angeregt und
angewidert zugleich), und ein älterer Herr mit Spazierstock und Bierfahne
trällert „Über den Wolken“ und möchte mich dazu zum Tanz auffordern,
nachmittags um halb vier in der U8. Doch auch außerhalb des U-Bahn-Schachtes
wird einem nie langweilig: Im Tiergarten begegne ich beim Joggen einem Mädchen,
das mich freundlich warnt: „Dort an der Straße wird geblitzt!“, und dann gab
es da neulich noch ein Zusammentreffen der eher unangehmen Art, das mich
nachhaltig das Fürchten gelehrt hat.

Ein lausig kalter Vormittag, ich war auf dem Weg zum
Conceptstore von Andreas Murkudis in
der Potsdamer Straße (Bestandteil meines Berlin-Sightseeing-Programms). Weil
mir zu Ohren gekommen war, dass es sich bei besagtem Laden um eine Instition
der besonders feinen Art handelt, hatte ich mich in Schale geworfen und trug
also meinen neuesten Schatz, eine graue Kunstpelzjacke von Tibi, zum schwarzen Rock und T-Shirt von Comme des Garçons. Damit bot ich sicherlich
keinen aufreizenden, jedoch hoffentlich aparten Anblick. Ein Passant, der mir
zunächst mit glasigen Augen hinterher starrte, war offensichtlich anderer
Meinung und fragte mich also mitten auf der Straße, am hellichten Tag, was ich
denn heute abend vorhabe, er wünsche sich so sehr „eine dominante Frau“.
Unnötig zu erwähnen, welch eisiger Schauer mir daraufhin den Rücken hinabkroch.
Ich floh über alle Berge (irgendwohin nach Mitte, da kenne ich mich wenigstens
aus).

Pfui aber auch! Ich fühlte mich verbal vergewaltigt, und
spielte das Szenario im Geiste mehrfach durch, bis ich mir eingestehen musste,
dass der Eindruck meiner weiblichen Dominanz wohl durch die Pelzjacke
entstanden sein musste. Denn auch wenn es sich bei meinem hübschen Tibi-Modell
um Kunstmaterial handelt – Aufmerksamkeit hatte ich in diesem Aufzug schon
vorher erregt, wenn auch nicht in derart offensiv-widerlicher Art und Weise.
Wieso erscheint ein Mädchen im Pelz wie eine Domina, die gruselige
Männerfantasien aufleben lässt?
Überhaupt ist die Pelzjacke, trotz aller Freiheit, die
kontroverse Modeerscheinungen heutzutage in unserer Gesellschaft genießen
dürfen, noch immer ein umstrittenes Kleidungsstück. Das mag nicht nur an den
Diskussionen darüber liegen, ob man ein Tier allein der Mode wegen umbringen
darf,  sondern auch generell an den
symbolischen Assoziationen, die eine Pelzjacke beim Betrachter eben weckt. Ich
dachte immer, dass es in erster Linie die unverhohlene Dekadenz und Luxusgier
wären, die man der Trägerin einer Pelzjacke (ob nun echt oder unecht) pauschal
anlastet– doch daran, dass eine Frau im Pelz auch immer wie eine über die
Männerwelt erhabene Machtbesessene wirkt, hätte ich nie gedacht. Aber natürlich
ist dieser Punkt bei näherer Betrachtung irgendwie naheliegend. Eine Frau im
Pelz ist offenkundig reich (ich bin es nicht, nur wirkt das Kunstmaterial
meiner Pelzjacke eben täuschend echt), Reichtum bedeutet Macht, und mächtige
Frauen scheinen für viele Männer sowohl verachtens- als auch begehrenswert zu
sein. Dabei gibt es nichts auf der Welt, das weniger mein Ziel wäre, als einen
Mann zwecks meiner Kleidung zu verführen. Überhaupt: wenn ich mich anziehe und
die Mode zelebriere, so tue ich dies stets und prinzipiell bloß zu meinem
eigenen Vergnügen. Niemals würde ich mich einem anderen Menschen zuliebe, oder
um bestimmte Bevölkerungsgruppen zu beeindrucken, nach einer anderen Façon
kleiden als der, die mir mein eigener Stil und meine eigene Laune vorschreiben.
Und genau deshalb wünsche ich mir, dass endlich all die
Vorurteile, die mit diesem oder jenem Kleidungsstück, ob mit der Pelzjacke oder
dem knallroten Sackkleid, automatisch in Verbindung gebracht werden, endlich
aus der Welt geschafft werden. Denn diese Klischees, deretwegen uns Männer
hinterherpfeifen und Frauen hinter unsem Rücken tuscheln, sind dem Ausleben des
eigenen Stils mehr als hinderlich, weil wir dadurch dazu neigen, schließlich
doch ein unscheinbares Outfit überzustreifen, nur um bloß nicht zu verrückt
oder zu extrovertiert oder zu aufreizend zu erscheinen. Aber ich möchte mich
eben nicht jedes Mal, wenn ich mir meine Tibi-Jacke überwerfe, davor fürchten
müssen, von dubiosen Mannsbildern auf der Straße meiner „weiblichen Dominanz“
wegen angebetet zu werden. Selbst wenn dies auf einer Berliner Straße
geschieht. 
Alle Bilder stammen aus der Modestrecke „Prism Break“ der amerikanischen ELLE. Fotograf: Thomas Whiteside. Styling: Joe Zee. Model: Naty Chabanenko. Das nenne ich eine gelungene Pelzjacken-Inszenierung fernab von Domina-Fantasien!