Fast wären wir gar nicht hingefahren. Die Koffer waren gepackt, die Sonnenhüte entstaubt, die Flugzeuglektüre gekauft, der Online-Check-in erledigt. Und während das Reisefieber stieg und wir uns, vielleicht vorsorglich, vielleicht unbewusst, von sämtlichen Radiogeräten und Web-Zeitungen fern hielten, detonierte am frühen Donnerstagabend des 15. August, 14 Stunden vor der geplanten Abreise, in einem Vorort südlich von Beirut eine Autobombe.
Von diesem Vorfall erfuhren wir mitten in der Nacht. Am nächsten Morgen saßen wir nicht im Flugzeug. Drei Tage später schon.
Ob ich verrückt geworden sei, das fragten Freunde und Verwandte, denen ich zuvor von meinen Libanonreiseplänen erzählt hatte. Über die finale Entscheidung, trotz diverser Anschläge mit mehreren Toten und vielen Verletzten den Flug nach Beirut einfach von Freitag auf Montag umzubuchen, verlor dann aber kaum noch einer ein Wort, zum Kopfschütteln muss man schließlich nicht den Mund aufmachen. Sowieso ist mein eiserner Wille allgemein bekannt. Wenn ich in den Libanon reisen will, dann wird mich keine Autobombe davon abhalten. Kismet sagt der Orientale dazu, es ist Schicksal, tu, was du tun musst. Als ich Montagnacht in Beirut aus dem Flugzeug stieg, war die Luft warm und würzig wie dampfender Zimttee, das Rollfeld illuminiert von orangefarbenen Scheinwerfern, der Mond eine silbrige Scheibe über dem Meer, die Stadt ein dichtes Netz aus funkelnden Lichtern. Willkommen zuhause.Der Libanon ist so klein, dass man ihn kaum auf der Landkarte erkennt, auf manchen Globen taucht er gar nicht erst auf. Die Hauptstadt Beirut besteht vornehmlich aus sandfarbenen Hochhäusern, mitunter noch von Einschusslöchern aus Bürgerkriegszeiten gezeichnet, Stromkabel hängen über Straßenschluchten, Mülltonnen quellen über, das Leitungswasser ist verseucht. 10 Prozent der Bevölkerung hat Geld, 90 Prozent ist bettelarm. Damaskus ist keine 80 Kilometer entfernt, Tripoli die nächste Großstadt, der Libanon umzingelt von den derzeit gefährlichsten Krisengebieten der Welt. Wie könnte man sich in solch einem Land zuhause fühlen?
Diese Frage stelle ich mir selbst wieder und wieder, während ich durch Beirut spaziere, die Sonne brennt vom Himmel herab, über dem Meer hängt milchiger Smog, und es ist, als hätte ich nie eine andere Stadt meine Heimat genannt, Beirut ist mir sofort vertraut, sobald ich libanesischen Boden berühre. „Beirut is authentic“, erklärt mir der charmante Libanese, der mich im Restaurant Tawlet ganz unverblümt nach meiner Telefonnummer gefragt hat und jetzt als mein privater Stadtführer fungiert. „It’s a shithole, but I never could leave it.“ Auf liebevolle Weise sind die Beirutis ihrem Land inniglich verbunden, obwohl hier kaum etwas ordentlich funktioniert, weder die Infrastruktur noch die Stromversorgung, allein der Straßenverkehr ist ein einziges Chaos. Motorräder, glänzende Limousinen und klapprige Taxis brausen im Zickzack durch schmale Gassen und über asphaltglühende Hauptverkehrsstraßen. Lektion Nr. 1, die ich von meinem libanesischen Lieblingsonkel lerne: „Rote Ampel – einfach weiterfahren!“ Wer brav stehenbleibt, dem droht ein ohrenbetäubendes Hupkonzert. Überhaupt ist es überall laut in dieser Stadt – nur die Bomben, die immer häufiger in südlichen Vororten und vor Hisbollah-Bastionen fallen, die hört hier keiner oder will keiner hören. Von meinen deutschen Freunden erreichen mich besorgte Nachrichten, ob ich noch am Leben sei, in Tripoli sei doch schon wieder irgendwas explodiert.
Und ob ich am Leben bin! Beirut ist die Stadt, in der meine Sinne zu Hochtouren auflaufen. Eine Stadt, die in all ihrer Hässlichkeit ein glanzvolles Licht ausstrahlt, das am frühen Abend kornblumenblaue und zitronengelbe Fassaden zum Leuchten bringt, die luxuriösen Schokoladenseiten Beiruts ebenso wie die heruntergekommenen Drecklöcher illuminiert. Hinter ornamentierten Pforten erstrecken sich mitten im quirligen Viertel Mar Mikhael duftende grüne Gartenoasen und pinkfarbene Bougainville, romantische Treppenaufgänge mit bunt bemalten Stufen, dazwischen Cafés, Bars, originelle Boutiquen, Buchläden, Galerien. Die Schatten hochgewachsener Palmen malen zarte Linien auf die Corniche am Meeresufer, rote Holztüren und weißgetünchte Mauern verleihen dem Sporting Beach Club jenen längst vergangenen Retro-Riviera-Charme, dem selbst der Anblick verrosteter Terrassenbalustraden nichts anhaben kann. Am Abend speisen wir französisch im Goutôns Voir, dessen Eigentümerin erst 25 Jahre alt ist und ein butterzartes Entrecôte auftischen lässt, wie ich es nirgends in Paris gekostet habe. Im Lux gibt es zum besten Oktopus-Salat der Stadt einen erfrischenden Gin Basil Smash, und wer den Libanon verlässt, ohne im Beach Club Punta del’Este in Jounieh die peruanischen Ceviche probiert zu haben, sollte am besten gleich wieder einen Flug zurück buchen. Ein Einkaufsparadies erster Klasse findet man in den vornehmen und glatt polierten Neubauten des Centre Ville, von Isabel Marant über Lanvin bis Missoni ist hier alles vertreten, was die orientalische Damenwelt mit ihren operierten Nasen und gemachten Brüsten und gemalten Augenbrauen beglücken mag. Selbst in diesem Milieu offenbart sich Beirut als echt und ehrlich, weil es darin seine Offenheit beweist, die freudige Akzeptanz der Gegensätze in einem Land, in dem sich dunkelbraun geröstete Libanesen am Pool des poshen La Plage das Brusthaar einölen und Mädchen in Louboutin-High-Heels auf dem Tresen der Skybar tanzen, während die dicke Wirtin Maria in einem Bergdorf nördlich von Beirut in aller Seelenruhe von morgens bis abends die weltbesten Manakeesh bäckt, auf einem alten schwarzen Ofen, den sie mit Fett aus einer Windex-Glasreiniger-Flasche besprüht.
Auf dem Heimweg aus besagtem Bergdorf zurück nach Beirut kommen wir an Tripoli vorbei, wir können noch nicht ahnen, dass dort am nächsten Tag eine Bombe vor einer Moschee explodieren und die Industriestadt zum Beben bringen wird. Wir fahren am Meer entlang, vor uns erhebt sich Beirut mit seinen sandfarbenen Bauten an sanft geschwungenen Hügeln. In diesem wunderschönen Land, mit seinen herrlichen Berglandschaften im Norden und Süden, den Zedern in der Bekaa-Ebene, für die das Auswärtige Amt aufgrund der unmittelbaren Nähe zu Syrien eine besonders ausdrückliche Reisewarnung ausgesprochen hat, in diesem einzigartigen Licht, das in Beirut jedes noch so hässliche Hochhaus wie ein golden illuminiertes Monument erscheinen lässt, inmitten all der bunten Fassaden, luxuriösen Boutiquen und exquisiten Restaurants haben die Libanesen gelernt, ein Leben im ständigen Risiko zu führen. Das ist es, was den Aufenthalt in dieser Stadt und in diesem Land so intensiv macht: Weil man im Libanon nie weiß, was morgen sein wird, wissen die Menschen dafür umso besser, was es wirklich heißt zu leben.
Am letzten Abend ist es spät geworden. Wir wollen ein Taxi rufen, aber mein Onkel hat eine bessere Idee: man könnte doch zu dritt auf seiner Vespa fahren, das sei gar kein Problem. Einen Augenblick später brausen wir durch die Beiruter Nacht, ich sitze hinten, Beine und Hintern hängen in der Luft, ich klammere mich an meiner Schwester fest, die in der Mitte sitzt. Wir kreuzen diverse Hauptverkehrsstraßen – „Rote Ampel – einfach weiterfahren!“ – fahren im Zickzack durch hügelige Gassen, es ist ein herrlich riskantes Vergnügen, ich fühle mich lebendig wie nie zuvor und jauchze Yalla Yalla! in die glitzernden Lichter der Stadt hinein. Eines weiß ich: im Herzen bin ich Libanesin.