Gerade komme ich aus dem Urlaub. Eine Woche lang habe ich am Strand gelegen und mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Von Sehenswürdigkeiten, Ausgrabungen, 5-Uhr-Sonnenaufgängen und sechsstündigen Wanderungen habe ich mich ferngehalten. Stattdessen habe ich Toter Mann gespielt, zwei Bücher gelesen und viel nachgedacht.
„Urlaub macht krank“ las ich neulich in der Zeitung. Psychologen warnten vor dem plötzlich hereinbrechenden Nichtstun, dem die Leute auf zwei jeweils unheilvolle Arten begegneten: mit straffem Touristenprogramm oder intensiver Selbstbeschäftigung. Beides könne böse Folgen haben, sagten die Psychologen.
Urlaub macht krank? Ich kann das nicht bestätigen. Nur in einer Sache bin ich mir sicher: Urlaubsvorbereitung macht krank, zumindest Menschen wie mich. Am Tag vor der Abreise fühlte ich mich so kraftlos wie ein pensioniertes Rennpferd. Denn für Menschen wie mich bedeutet die Aussicht auf mehrtätige Faulheit in erster Linie Stress. Menschen wie ich, das sind: Perfektionisten.
Nichtstun und Müßiggang, was für eine Dekadenz! Die muss man sich erstmal verdienen, so denken wir Perfektionisten. Gerade deshalb konfrontiert uns nichts so sehr mit unserem Perfektionismus wie der Sommerurlaub. Von heute auf morgen soll man plötzlich die Beine hochlegen, sich gehen, die Arbeit ruhen und das Streben nach dem Besten und Höchsten mal gut sein lassen? Na gut. Aber nicht ohne die entsprechende Vorbereitung! Drei Artikel müssen noch fertig, außerdem mindestens zwei weitere für die anstehende Trockenzeit vorbereitet werden, denn selbst wenn man selber ruht, die Arbeit darf es nicht! Gleichzeitig beginnt das Kopfzerbrechen: Was braucht man für einen gelungenen, also perfekten Urlaub? Einen neuen Bikini, fünf unterhaltsame und gleichsam intelligente Bücher, ein Kartenspiel gegen Langeweile, einen Fächer gegen die Hitze, Tabletten gegen Migräne, Sonnenmilch, Insektenspray. Nicht zu vergessen die eigentliche Reisegarderobe, die ein ganz eigenes Kapitel der vorurlaublichen Belastungsprobe darstellt.
Vor dem Aufbruch gehört dann noch die Wohnung geputzt, das Bett gemacht, das Zimmer gelüftet, denn wer will nach dem schönen Urlaub schon in eine rumpelige Wohnung zurückkehren. Wer kümmert sich um die Post, wer gießt die Blumen auf dem Balkon? Auf dem Weg zum Flughafen sitzt man völlig entkräftet von der ganzen Hektik auf der Rückbank des Taxis, da fällt es einem siedend heiß ein: die Abwesenheitsnotiz! Schnell noch aktivieren. Im Flieger wird geschlafen, denn selbst wir, die ständig ruhelosen Perfektionisten, können irgendwann nicht mehr. Doch kaum ist das Flugzeug gelandet, ist der Perfektionist wieder in Alarmbereitschaft: Wo und wann fährt hier der schnellste Bus in die Stadt? Hoffentlich ist das Ferienhaus so idyllisch wie es im Internet aussah! Hoffentlich existiert es überhaupt! (Perfektionisten neigen zu Paranoia). Wo findet man jetzt ein schönes Restaurant? Müde und ausgehungert ist man nach der langen Reise, aber nicht mal in diesem Zustand bereit, sich mit praktischem Durchschnitt zufrieden zu geben. Gerade das erste Urlaubsdinner muss spektakulär sein, authentisch, das Restaurant spezialisiert auf lokale Delikatessen, ausschließlich von einheimischen Gästen besucht, mit Terrasse und Meerblick. Perfektionisten graust es vor Touristenspelunken.
Willkommen in meinem Leben. Ich spreche hier nämlich aus eigener, taufrischer Erfahrung. Mein Urlaub begann, trotz aller Euphorie, so und nicht anders. Zum Abschalten meines chronischen Perfektionsbestrebens wollte ich Ferien machen. Dabei brachte die Aussicht auf Freizeit den Kontrollfreak in mir erst richtig zum Vorschein. Am andalusischen Strand angekommen, dauerte es zwei volle Tage, bis der erste Anflug von Entspannung einsetzte. Camparifarben leuchtete die Abendsonne über den Palmen, als ich am frühen Abend aufs Meer hinausschwamm, langsam, ohne Hatz und sportlichen Ehrgeiz. Perfekt, dachte ich – und ertappte mich im gleichen Moment. Immer wieder dieser grausame, unerbittliche Perfektionismus. Wann hört das endlich auf?
Wie sagte Oscar Wilde mal so treffend? „Ich habe einen einfachen Geschmack: Ich bin nur mit dem Besten zufrieden.“ Dieser Spruch trifft meinen Charakter, so arrogant und eingebildet er klingen mag. Aber ich will ja ehrlich sein. Als Kind habe ich abends meine Kuscheltiere auf dem Regal nach Größe und Wichtigkeit sortiert, irgendeins saß immer schief oder mit zerknautschtem Ohr, die Prozedur konnte Stunden dauern. Später wurde aus dem Sortieren der Kuscheltiere das Sortieren der Kleider. Keine Minute kann ich in Ruhe arbeiten, wenn in meinem Zimmer auch nur eine einzige Socke lose herumliegt. Zerknitterte Blusen ärgern mich, sogar meine Jeans bügele ich gelegentlich. Im Alter von sieben Jahren entwickelte ich einen ausgeprägten Sinn für Sauberkeit. Unordnung machte mich verrückt. In der Kinderabteilung von Zara legte ich jede Strickjacke nach dem Anprobieren fein säuberlich gefaltet ins Regal zurück. Meine Bilderbücher ordnete ich nach Farben. In der zweiten Klasse stand in meinem Zeugnis: „Claire arbeitet sehr sorgfältig, aber langsam.“ Perfektionisten neigen dazu, sich zu verzetteln. Sie wollen alles gleichzeitig perfekt machen – ein Anspruch, der unglücklich und wütend macht, weil die hochgesteckten Ziele kaum erreichbar sind.
Ich war nie das lässige Mädchen, das mit seinen Freunden im Dreck auf der Straße sitzt, Bier trinkt, Chips isst und nicht an morgen denkt. So sorglos war ich nur auf der Abireise: da erlaubte ich es mir ausnahmsweise, stundenlang mit meinen Freunden auf dem Sofa zu liegen, RTL zu schauen, dabei Pizza zu essen und Wodka aus der Flasche zu trinken. Seit meinem 14. Lebensjahr mache ich mir Gedanken über meine Figur. Ich bin nicht deshalb schlank, weil ich meine Pubertät mit Cola und MTV verbracht habe, sondern weil ich seit der frühen Kindheit Sport treibe – meist zweifellos aus Spaß an der Sache, oft aber auch gegen meinen eigenen Willen. Mein Perfektionismus ist ein Wettbewerb, in dem ich vor allem mit mir selbst konkurriere. Er ist ein Nährboden für die Angst vorm Kontrollverlust. Im Durchschnitt zu stranden, nicht in jeder Lebenslage nach Perfektion streben zu wollen war für mich immer gleichbedeutend mit Scheitern und Verfall. Wenn ich einmal das Leichtathletiktraining verpasste, fühlte ich mich schuldig. Der Anfang vom Ende! – dachte ich mit absolut unangemessenem Pathos, ebenso, wie ich mich neulich vorm Urlaub selbst dafür rügte, es nicht mehr geschafft zu haben, noch zwei schöne, schlaue und unterhaltsame, also perfekte Artikel für dieses Blog zu schreiben.
Überhaupt: Wahrscheinlich würde es C’est Clairette gar nicht geben, wenn mich nicht seit Urzeiten mein Perfektionismus dazu angetrieben hätte, mein eigenes Reich nach meinen eigenen Ansprüchen zu schaffen, ein Blog, das über dem Durchschnitt liegt, das neu, innovativ, originell, aktuell, ästhetisch und intelligent zugleich ist. Perfektionismus klingt oft nach Verbissenheit und krampfhafter Disziplin. Dabei haben wir doch schon von unseren Müttern gelernt, dass Nobody perfect ist. Stimmt. Ich bin nicht perfekt, meine Figur ist nicht perfekt, mein Gesicht nicht, meine Wohnung nicht, meine Uni-Ergebnisse nicht, meine Zeitungsartikel nicht, dieses Blog nicht. Aber warum nicht trotzdem nach Perfektion streben?
Das Motiv an sich ist nichts Schlechtes, im Gegenteil. Mein hohen Ansprüche an mich selbst, meine Gewissenhaftigkeit und mein Organisationstalent sorgen dafür, dass ich ein auf den Punkt gegartes Risotto kochen und an einem aufgeräumten Schreibtisch effektiv arbeiten kann, dass ich gesund und fit bleibe, dass meine Karriere voranschreitet, dass ich in den Ferien in einem idyllischen, versteckten Badeort lande. Perfektionismus ist unbedingte Hingabe für eine Sache. Ich liebe es zu schreiben, ich liebe es zu kochen, ich liebe es zu rennen, ich liebe es, an einem besonders schönen Strand ein besonders gutes Buch zu lesen – warum also all diese Leidenschaften nicht mit den höchsten Ansprüchen angehen?
Problematisch wird Perfektionismus dann, wenn es nicht mehr um die Liebe für eine Sache geht, sondern um die Angst vor dem Scheitern. Und wenn der Kontrollwahn so sehr an den Kräften zerrt, dass keine Zeit mehr bleibt für die so lebensnotwendige Kunst des Beinehochlegens. Kurzum: wenn der Perfektionismus zum Tunnelblick wird. Und wenn einem alles, was gut, aber nicht perfekt geworden ist, schlechte Laune bereitet. So geht es mir nicht selten. So hart, wie ich dann zu mir selbst bin, bin ich auch gegen andere. Was ich von mir verlange, verlange ich auch von ihnen. Mein Putzfimmel lässt mich alle zwei Tage die Wohnung saugen. Herrlich, könnten meine Mitbewohner denken, wie im Hotel – würde ich nicht gleich so streng schauen, wenn sie selbst ihren wöchentlichen Putzdienst um drei Tage verschieben wollen. Hast Du auch ordentlich umgerührt? frage ich meinen Freund mit strengem Schulterblick, wenn wir Risotto kochen und er mal 30 Sekunden nicht in den Topf geschaut hat. Was für eine verrückte Person! denke ich manchmal über mich selbst. Für die würde ich nicht arbeiten wollen.
Aber so unsympathisch mir mein eigener Perfektionismus gelegentlich erscheint: tatsächlich fühle ich mich mit dieser Eigenschaft keinesfalls allein. Perfektionismus lauert an jeder Straßenecke. Perfekt perfekt perfekt, kaum ein Wort liest man häufiger in den Frauenmagazinen. Nichts ist in der Werbung, in der Modefotografie, auf den Laufstegen omnipräsenter als die Perfektion, auf deren perfide Inszenierung ich immer wieder hereinfalle. Der ständige Drang nach Selbstoptimierung ist zu einem Symptom unserer Zeit geworden. Wir streben nach der perfekten Figur, der perfekten Ernährung, der perfekten Jeans, der perfekten Wohnung, dem perfekten Job, dem perfekten Urlaub, dem perfekten Mann, kurzum: nach einem Ideal, das das Gute weit hinter sich lässt. Wer will heute schon gut sein? Gut ist nicht perfekt. Durchschnitt war vielleicht noch nie so uncool wie heute. Unser dauerhaftes Streben nach Überdurchschnittlichkeit und Einzigartigkeit macht uns alle zu Perfektionisten. Zufrieden sein mit dem, was gerade ist – wer will das schon? Zufriedenheit, ist das nicht was für Kleinbürger?
Auch dass gerade immer mehr Menschen zu bemerken scheinen, was der Perfektionsdrang mit ihnen anstellt, ist ein Symptom für seine Omnipräsenz. „Macht blau!“ steht auf dem Cover der aktuellen Ausgabe von brand 1, die für mehr Mut zur Faulheit wirbt. Tageszeitungen, Lifestylemagazine, Yogalehrer und Blogger rufen unisono zur neuen Modeaktivität Achtsamkeit auf: Man solle immer auf seinen Atem hören, viel Wasser und Matchatee trinken, täglich autogenes Training betreiben. Der Perfektionismus hat alle Bereiche unseres Lebens erobert – sogar das Abschalten.
Das Gefährlichste am Perfektionismus aber ist die Tatsache, dass er nie ein Ziel findet. Perfektionisten sind zur Ruhelosigkeit verdammt. Kaum haben sie die perfekte Jeans gefunden, gibt es plötzlich eine neue, die tatsächlich noch perfekter wäre. Kaum haben sie den perfekten Urlaub gebucht, grübeln sie beim Planschen im Pool schon über der Frage, an welchen noch verwunscheneren Ort man denn mal als nächstes fahren könnte. Die Verzweiflung des Nie-am-Ziel-Ankommens trifft jeden Perfektionisten – mich persönlich häufig dann, wenn ich gerade einen neuen Artikel online gestellt habe. Ist der wirklich gut geworden? Kann man sowas in die Welt hinausposaunen? Interessiert das überhaupt irgendwen? Da, ein Rechtschreibfehler! So ein Mist! Und selbst wenn der Artikel Anklang findet, drängt sich die nächste Sorge auf: Was als nächstes schreiben? Manchmal schreibe ich dann lieber gar nichts, aus Angst, es könnte nicht perfekt werden.
Aber was passiert eigentlich, wenn es nicht perfekt wird? Geht dann die Welt unter? Wie dramatisch ist eine gelegentlich ungeputzte Wohnung, ein verkochtes Essen, ein hartnäckiger Bauchansatz, ein ungebügeltes Hemd, ein andalusisches Ferienhaus ohne Klimaanlage, ein Artikel, der mal nicht gelingt, ein Deal, bei dem man schlecht verhandelt hat, ein Freund, mit dem man mal schweigend im Restaurant sitzt? Nicht so schlimm. Genau das versuche ich gerade: den verhassten Perfektionsmangel zu konfrontieren wie ein Ängstlicher sich seiner Spinnenphobie stellt. Ist es wirklich so schrecklich, nicht perfekt zu sein, wie es scheint? Wahrscheinlich nicht. Ich bin doch auch nur ein Mensch. Ich bin doch nicht Barbie.
Eine Lektion hat mir mein Urlaub, der hektisch begann und zauberhaft wurde, jedenfalls erteilt: Nach wahrer Perfektion kann man nicht streben. Sie überkommt einen irgendwann, ganz überraschend. Zum Beispiel dann, wenn man am Abend Richtung Afrika schwimmt, das Wasser ist klar wie Kristall, über Felsen und Palmen steht tief eine camparifarbene Sonne. Einen solchen Moment darf man perfekt nennen. Besser geht’s nicht.