Französische Restaurants haben die Eigenart, ringsum an den Wänden mit augenhoch angebrachten Spiegeln ausgestattet zu sein. Sinn und Zweck dieser Installation ist, dass so auch das Treiben der Restaurantgesellschaft beobachten kann, wer mit dem Rücken zum Geschehen sitzt. Die Franzosen sind schlau, sie schaffen die billigen Plätze ab. Gastwirte anderer Nationalitäten haben sich den Trick bereits abgeschaut, in bester Absicht für das Wohl ihrer Gäste.
Doch wie alles Gutgemeinte auf der Welt sind auch diese Spiegel leider nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Kaum hat man im Restaurant gegenüber einer reflektierenden Glaswand Platz genommen und könnte nun, der rückwärtigen Sitzposition zum Trotz, bequem den Ausblick in den Gastraum genießen, schon zieht das eigene Spiegelbild alle Aufmerksamkeit auf sich. Mit der Konzentration ist es aus und vorbei: Man kann ab jetzt nirgends mehr hinschauen als in die unerbittlich zurückstierenden Augen der eigenen Reflektion.
Anfangs tut man es vielleicht noch unbewusst, in einen Spiegel schaut man halt mal, wenn sich die Gelegenheit bietet. Sitzt die Frisur, wie tief sind die Augenringe? So, jetzt reicht’s aber, man sollte nun das Interieur des Restaurants bewundern, die flinken Kellner und die interessanten Herrschaften am Nebentisch. Vor allem sollte man sich mit den Menschen an seinem eigenen Tisch beschäftigen. Stattdessen wandert der Blick zum Spiegel. Immer wieder. Das eigene Spiegelbild drängt sich auf wie ein angetrunkener Mann mit schlechtem Atem. Man wird wütend: Wie kann das sein, dass ich ständig mich selbst anschauen muss? Bin ich wirklich so narzisstisch? Man würde gerne woanders hinschauen, um sich zu vergewissern, dass es nicht so ist. Aber der so ungünstig auf Augenhöhe platzierte Spiegel zerrt den Blick zurück zum eigenen Antlitz. Man ist gefangen. Das permanente Anbiedern des eigenen Spiegelbilds führt leider auch dazu, dass man die ganze Zeit an seinem Gesicht herumfummelt, die Haare öffnet und wieder zusammenbindet, die Bluse glattstreicht, es ist zum Wahnsinnigwerden. Wir kennen das Phänomen auch von Skype oder FaceTime: obwohl die Videotelefonie ja eigentlich dazu gedacht ist, seinem Gegenüber mal wieder ins Gesicht zu schauen, zwingt eine unsichtbare Macht dazu, doch immer wieder das eigene Bild zu betrachten. Am Ende legt man auf und weiß gar nicht, wie die gute Freundin nach drei Monaten Neuseeland denn nun aussieht.
Eine Umfrage im Freundeskreis hat ergeben, dass es sich bei dieser bizarren Variante der Selbst-Obsession keineswegs um ein Einzelphänomen der ohnehin flächendeckend unter narzisstischen Störungen leidenden Modewelt handelt. Auch andere Branchen, ja selbst unscheinbare Privatpersonen sind betroffen. Das Problem ist, dass die unablässige Selbstbetrachtung keineswegs als Genuss empfunden wird, so wie etwa dann, wenn man spätabends beschwipst nach Hause kommt und eine halbe Stunde einem klassischen Bedürfnis des Geheimen Single-Verhaltens (GSV) nachgibt, nämlich dem Pickelausdrücken. Im Restaurant ist es anders. Man kommt hier der Geselligkeit wegen her, man möchte Gespräche führen, andere Leute beobachten, inspiriert werden. Und dann kommt einem dieser verdammte Spiegel in die Quere.
Dass Spiegel gefährliche Geräte sind, wusste schon Schneewittchens böse Königin. Unsereins muss nicht gleich um Existenzverlust fürchten, wenn wir mal wieder nur uns selbst anschauen. Aber Angst macht der Zwang zur Selbstbetrachtung trotzdem. Der Spiegel führt uns vor, dass die Nächstenliebe ein Märchen aus der Bibel ist. Wir sind nur hier, um uns selbst zu lieben. Selbst wer andere liebt, tut das letztlich nur für sich selbst. Gruselig, aber wahr: Wenn man es recht bedenkt, ist jeder von uns eigentlich ganz allein auf der Welt, denn am Ende kämpft jeder von uns für nichts anderes als das eigene Wohl. Und sogar wer zusammen mit einem vollbesetzten Restaurant in den Spiegel schaut, sieht tatsächlich nur sich selbst. Das ist eigentlich viel mehr als nur ein Luxusproblem.