Das Geräusch der Verweigerung

WARUM DIE SNOOZE-TASTE ABGESCHAFFT WERDEN MUSS

Aus dem Nebenzimmer tönt ein metallisches Sirren, unmerklich anschwellend wie eine heranrauschende Ozeanwelle. Fünf rhythmische Töne in Dauerschleife, unterbrochen von jeweils einsekündiger Pause. Eine Viertelminute brummt es so durch die dünnen Wände, gedämpft zwar, aber beharrlich, ausdauernd, irgendwie passiv-aggressiv. Dann: Stille. Dem abrupten Eintreten nach zu urteilen gewaltsam herbeigeführt. Fünf Minuten lang ist das Nebenzimmer tot. Dann setzt der Ton wieder ein, angestimmt durch ein zudringliches Vibrieren. Es ist das Geräusch der Verweigerung.

Meine Mitbewohnerin will nicht aufstehen. Alle fünf Minuten haut sie auf den Langschläfer-Notfallknopf, auch genannt Schlummertaste, oder „Snooze“-Button. Ich belausche den Kampf oft von meinem eigenen Bett aus. Unsere Wohngemeinschaft snoozt am Morgen im Duett.

Morgens bin ich ein anderer Mensch als abends. Abends habe ich Ideen, Energie, ein schlechtes Gewissen, weil ich heute nicht so viel geschafft habe, wie ich wollte. Also stelle ich mir den Wecker auf 6 Uhr 30, manchmal sogar auf 6 Uhr. Morgen wird ein großer Tag!, sage ich mir dann und muss bei dem Gedanken daran, was ich morgen alles auf die Reihe kriegen werde, gewinnend in mein Kissen lächeln. Ich werde im Morgengrauen aufstehen, mich unter die kalte Dusche stellen, dazu Earth Wind & Fire anschalten und erstmal ein paar Kraftübungen machen. Wenn der hellblaue Tag über den Dächern der Stadt aufgeht, werde ich schon am Schreibtisch sitzen, frisch, belebt, energisch. Ich werde ein bisschen die New York Times lesen, das Finanzamt anrufen, die fünfzehn wichtigsten Emails beantworten und dann anfangen zu schreiben. Um 9 Uhr werde ich schon so viel erledigt haben wie andere nicht vor 14 Uhr.

Aber gewinnend lächeln geht gut, wenn man sich gerade erst in sein warmes Bett gelegt hat. Wenn man es verlassen soll, ist da nur ein Gefühl: Widerstand. Der Wecker klingelt, ich hasse die Welt und, mit zunehmender Frequenz der Weck-Erinnerung, auch mich selbst. Dass ich mal um 6 Uhr 30 aufstehen wollte, scheint in ferner Vergangenheit zu liegen. Die Nacht spaltet mich offenbar in zwei Persönlichkeiten.

Die Snooze-Taste zu drücken hat etwas furchtbar Resignierendes. Als es sie noch nicht gab, stand man beim ersten Weckerklingeln auf (oder verschlief, war dann aber wenigstens ausgeschlafen). Man konnte den schrillenden Wecker vor Wut auch an die Wand schmeißen und zertrümmern, ein beliebtes Bild in Kinofilmen wie Groundhog Day. Damit demonstrierte man immerhin Macht über seinen Wecker. Jetzt hat der Wecker Macht über mich. Wenn ich am Morgen zum elften Mal die Snooze-Taste drücke, fühle ich mich wie eine Versagerin. Ich möchte ihrem Erfinder nicht unterstellen, mit bösen Absichten gehandelt zu haben. Wahrscheinlich hat er es nur gut gemeint, weil ja ständig Leute Flüge, Präsentationen und Vorstellungsgespräche verpassten, wenn sie sich nach Abstellen des Weckerklingelns umdrehten und weiterschlummerten. Im besten Fall ist die Snooze-Funktion ein sanftes Rütteln, falls man das erste Klingeln überhört hat: Wolltest du nicht aufstehen? Aber auch: Wolltest du heute morgen nicht mal, zur Abwechslung, was auf die Reihe kriegen?

Die Snooze-Taste spielt mit einer der größten Schwächen der Menschheit: Unbequemes ständig verschieben zu wollen. Sport vor dem Frühstück, Meditation, Zeitunglesen, Beinrasur, Anruf beim Finanzamt – all die Dinge, die man tun könnte, wenn man morgens mal ein bisschen früher als auf den letzten Drücker aufstehen würde, die man aber nicht zwingend tun muss, bleiben dank der Snooze-Taste ewig unerledigt. Weil, so die ewige Selbstbetrugslogik, kann man ja alles auch sehr gut noch heute Abend nach der Arbeit machen (macht man dann allerdings doch nicht). Oder morgen früh (haha, als ob). Die Snooze-Taste führt uns unsere Disziplinlosigkeit in all ihrer Pracht vor, unsere Lächerlichkeit, Faulheit und Schwäche. Der erfolglose Kampf gegen sie ist das erste Versagen des Tages, und das noch vor dem ersten Kaffee. Ganz schön hart.

Ich möchte mich hiermit für ein Verbot der Snooze-Taste aussprechen. Die Snooze-Taste macht mir das Leben schwer. Unzählige Studien belegen, dass stundenlanges Snoozen ungesund sei. Ewiges Einnicken und Aufschrecken mache müder als sofortiges Aufstehen. Lieber sollte man lernen, seine eigene Schwäche einzuschätzen, zu akzeptieren und entsprechend realistisch zu kalkulieren: Kann ich wirklich um 6 Uhr 30 aufstehen, wenn ich um 1 Uhr nachts das Licht ausmache? Will ich das vor allem? Oder wäre es nicht schlauer, den Wecker einfach gleich auf 8 Uhr 30 zu stellen, dann aber auch mit besserer Laune aufzuwachen? Mein Freund macht das so. Er benutzt die Snooze-Taste zwar auch, aber höchstens einmal, und genießt sie dadurch richtig. Er ist gegen die Abschaffung der Snooze-Taste. Nur Überambitionierte wie ich könnten sie nicht handlen, meint er.

Als es die Snooze-Taste noch nicht gab, habe ich mal verschlafen, und zwar an ausgerechnet jenem Tag, an dem ich um 8 Uhr in der amerikanischen Botschaft stehen sollte, um das Visum für mein Auslandssemester in New York zu beantragen. Ich wachte zwanzig Minuten vor dem Termin auf, die amerikanische Botschaft liegt am Rande der Stadt. Fünf Minuten später saß ich im Taxi. Wahrscheinlich war ich noch nie in so kurzer Zeit so wach.