Einkaufen macht mir keinen Spaß

ES MACHT MIR EIN SCHLECHTES GEWISSEN. JEDES MAL!

Bild: Still aus „Marie Antoinette“ von Sofia Coppola

Vor einer Weile ging ich in Hamburg spazieren und kam zufällig an einem Secondhandgeschäft vorbei. Es war eins von der Sorte Laden, in dem es nach Käsefüßen und Keller riecht und man Stunden braucht, um im Getümmel von sehr viel Schrott zu finden, was man sucht. Ich fand es sofort: ein Paar pinkfarbener, metallisch glänzender Pantoletten mit kleinem Absatz und Schleife vorne drauf, wenig Schrammen, ein fantastischer Disco-Schuh, wie frisch vom Balenciaga-Laufsteg herabgesteppt, und das auch noch in meiner Größe. Ein Glücksfund. Der Preis war mit Filzstift auf die Sohle gekritzelt: 29 Euro. Ich wusste sofort, dass ich diese Schuhe haben wollte, zögerte aber. 29 Euro? Musste das jetzt sein? Für etwas, das ich gar nicht brauchte? Von dem Geld könnte ich in Berlin zweimal essen gehen. Oder meiner Mutter Blumen kaufen. Ich könnte es auch für eine Reise sparen. Ich ließ die Schuhe zurücklegen und sagte als Begründung, ich müsse über den Kauf „nachdenken“. Ich kam mir sehr erwachsen und sehr lächerlich zugleich vor.

Jedes Mal, wenn ich einkaufe, habe ich ein schlechtes Gewissen. In einen Laden zu gehen fühlt sich für mich wie der Besuch in einem Casino an. Weil sich Fehl- und Glückskäufe in der Umkleidekabine nur schwer voneinander unterscheiden lassen, kommt mir Einkaufen wie das reinste Glücksspiel vor, und das geht so: Ich sehe etwas, das ich toll finde und sofort kaufen möchte. Ich habe eine Vision von mir in diesem Kleidungsstück, ich sehe mich als elegantere, lässigere, flamboyantere Clairette herumstolzieren und schwelge in diesem Tagtraum, bis ich das Preisschild sehe, das mir in Erinnerung ruft, dass es dieses schöne Kleid nicht umsonst gibt. Sodann folgt die quälende Frage, ob es seine ausgewiesenen 29 Euro oder 299 Euro oder meinetwegen auch 2900 Euro nun wert ist oder nicht. Soll ich auf Kaufen oder auf Verzichten setzen? Sofort schaltet sich mein Gewissen ein, das meistens der Meinung ist, ich solle diesen Laden am besten sofort und ohne Umwege wieder verlassen. Du brauchst dieses Kleid nicht, sagt mein Gewissen. Aber wer weiß, antworte ich dann, ob hier ein Teil vor mir hängt, von dem ich in 50 Jahren meinen Enkeln erzählen werde?

In Paris habe ich neulich einen Morgenrock mit Paisley-Muster anprobiert, der total nach Dries van Noten aussah und nur 60 Euro kosten sollte. Ich habe ihn nicht gekauft. Keiner weiß, dachte ich, als ich den Morgenrock zurückhängte und mir dabei wahnsinnig vernünftig vorkam, ob mir schon in zwei Wochen dämmern wird, wie dämlich ich in einem Morgenrock mit Paisley-Muster aussehe. Vernunft ist kein Vergnügen. Seitdem ich mit angezogener Handbremse in die Geschäfte gehe, ängstlich, jede Minute einen Fehlkauf zu tätigen, bei jedem noch so preiswerten Kleidungsstück zweifelnd, ob das jetzt wirklich sein muss, macht mir Einkaufen gar keinen Spaß mehr.

Interessant ist, dass es am Geld, von dem ich chronisch immer zu wenig davon habe, gar nicht liegt. Ich bin zwar häufig pleite, aber trotzdem ist es selten die Summe, die ich eventuell gleich lossein könnte, die mir beim Einkaufen Unbehagen bereitet. Ich glaube sogar, dass ich mich noch viel unbehaglicher fühlen würde, wenn ich plötzlich unendlich viel Geld zum Einkaufen zur Verfügung hätte. Das Problem ist, dass ich ständig in Sorge bin, zu viel zu besitzen. Ich habe Angst davor, zuhause ungewolltes Zeug herumliegen zu haben. Zeug stresst mich, wobei mir die Idee eines riesigen Kleiderschranks, wenn nicht sogar eines Modearchivs, andererseits sehr gut gefällt. In Modearchiven hängen aber auch nur einzigartige Schätze, oder? Ich will nicht mehr Kleidung haben, sondern mehr von der richtigen Kleidung.

Ich habe mal gegooglet, auf welche psychischen Abgründe mein Verhalten hinweisen könnte, und dabei herausgefunden, dass es sich bei der Angst vor Besitz offenbar um eine Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung und des unabhängigen Seins handelt. Wer ständig einkauft, so die Theorie großer Denker wie Karl Marx und Erich Fromm, werde vom Kapitalismus ferngesteuert. „Das Vorhandensein einer übertriebenen Anzahl nützlicher Dinge endet in der Erschaffung einer übertriebenen Anzahl von unbrauchbaren Menschen“, hat Marx einmal gesagt. Erich Fromm wies 1976 in seinem Buch „Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ darauf hin, dass das Konsumieren ein wachsendes Unbehagen hervorrufe, weil die Konsumgesellschaft den Zustand von Glück durch Wohlstand nicht einlösen konnte. „Besitz ist gegenüber dem lebendigen Sein das Tote“, schrieb Hans Krieger 1977 zum Thema in der ZEIT.

Ein Blick in die Gegenwart zeigt, dass Fromm und Marx mit ihren Thesen in der jungen Generation gerade wieder schwer im Trend liegen. „Why millenials don’t want to buy stuff“ schlägt mir Google vor, sobald ich „Why millenials don’t“ eingebe. Im Guardian wird der Airbnb-Gründer Brian Chesky mit den Worten zitiert, access sei das neue ownership. Die Generation Instagram gebe ihr Geld lieber für experiences als für ein Haus oder Auto aus – anscheinend deshalb, weil eine experience sinnstiftend ist, ein Einkauf aber nicht. Und einem Millenial liegt jetzt, wo er nicht mehr in die Kirche geht, einiges daran, sein Leben mit Sinn zu füllen (siehe auch: Yoga, Veganismus, Bio, undsoweiter).

Wir halten also fest: Mein schlechtes Gewissen beim Einkaufen von Kleidung kommt daher, dass ich Angst vor der Fremdbestimmung durch einen übermächtigen Kapitalismus habe. Besitztümer machen nicht glücklich, experiences aber schon. Verreisen ist das neue Auto.

Das erklärt einiges. Ich habe mir gerade ohne mit der Wimper zu zucken eine Reise durch die USA gebucht, die so teuer wird wie ein Outfit von Rosie Assoulin. Hätte ich mir das Outfit gekauft, hätte ich vor schlechtem Gewissen kaum schlafen können. Bei der Reise aber denke ich: das ist eine Investition in meine Zukunft, meine Weisheit, meinen Charakter! „Eine Reise ist ein Trunk aus der Quelle des Lebens“, hat Christian Friedrich Hebbel mal behauptet. Etwas so Hochtrabendes würde kein Dichter jemals über das Einkaufen sagen.

Dabei steht vor allem das Einkaufen von Kleidung unter Beschuss, es bereitet auch mir das schlechteste Gewissen. Es gibt Hobbies, die viel teurer sind als Mode, aber viel mehr gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Musikfans etwa kaufen sich sauteure Gitarren und Schallplattenspieler. Dagegen hat keiner was, schließlich tun sie damit ja was für den Erhalt der Kultur. Ein Freund meiner Eltern hat neulich einen Cello-Bogen verloren, für den er eine halbe Million Euro bezahlt hatte. Eine halbe Million Euro! Der arme Mann hat auf den Schock tatsächlich einen Herzinfarkt bekommen. Alle hatten Mitleid mit ihm. Ich wüsste gern, wie die Leute reagieren würden, wenn ich eine 500 000 Euro teure Handtasche irgendwo liegen lassen und daraufhin einen Nervenzusammenbruch bekommen würde. Selbst Schuld, würde man da wahrscheinlich sagen, wer ist schon so blöd und gibt so viel Geld für eine Handtasche aus?

In Paris habe ich mir statt des Morgenrocks ein Abendessen in meinem libanesischen Lieblingsrestaurant gegönnt. Viel besser als in gutes Essen kann man sein Geld nicht investieren, dachte ich, ganz der Vorzeige-Millenial. Das Restaurant ist ziemlich teuer, trotzdem hatte ich fast gar kein schlechtes Gewissen, höchstens ein klitzekleinesbisschen, weil mein Konto ziemlich leer war. Dafür war es sehr schön, dort zu essen, definitiv keine Verschwendung, wie ich befand. Mein Freund fand es auch ganz schön, aber nachdem wir die Rechnung von 95 Euro beglichen hatten, sagte er, so viel besser als in seiner Lieblings-Falafel-Bude hätte es jetzt auch nicht geschmeckt. Das gab mir zu denken. Gibt es überhaupt etwas, wofür man Geld ausgeben kann, ohne dabei, streng genommen, ein schlechtes Gewissen haben zu müssen?

Jedes neue Kleidungsstück ist Überfluss. Jedes neue Kleidungsstück ist aber auch eine Chance: auf gute Laune, auf das erfrischende Gefühl der Selbsterneuerung, vielleicht sogar auf einen ewigen Begleiter. Weil mich meine Angst vor Besitz Gottseidank noch nicht zu einer Minimalistin gemacht hat, habe ich in meinem Schrank ein paar Schätze hängen, über deren Kauf ich sehr, sehr froh bin. Kann ein neues Kleidungsstück nicht auch eine experience sein?

Besitz ist nicht tot. Jedes Kleidungsstück in meinem Schrank erzählt eine Geschichte: von einer tollen Party, auf der es sich einen Rotweinfleck einfing, von meinem Auslandssemester in New York, wo ich es nach mehrtägigem Umschleichen schließlich kaufte, von meinem ersten Honorar, das ich natürlich ausgeben musste. Sogar die Fehlkäufe sind voller Leben: sie erinnern mich an meine vielen Versuche, eine andere aus mir zu machen. Selbst wenn diese Versuche gescheitert sind – was ist so schlimm daran? Einkaufen ist ein kleiner Kontrollverlust, den man sich hin und wieder unbedingt gönnen sollte.

Die Geschichte mit den pinkfarbenen Mules ging übrigens so aus, dass ich nach 10 Minuten Bedenkzeit die 800 Meter zurück zum Geschäft rannte, um den Kauf zu besiegeln. Als ich sie in einer speckigen Plastiktüte aus dem Laden trug, fühlte ich mich ein bisschen verwegen. Neulich hat mich jemand gefragt, ob sie von Balenciaga seien.

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Foto: Marlen Mueller