Driving Home for Christmas

ICE-FAHREN VOR WEIHNACHTEN – EIN ERFAHRUNGSBERICHT

Bildschirmfoto 2015-12-22 um 11.09.02 AMJe näher Weihnachten rückt, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, Leuten über den Weg zu laufen, auf die man überhaupt keine Lust hat. Erhöhte Vorsicht ist in deutschen Intercity-Express-Zügen geboten, dieser Tage Gefahrengebiet Nummer 1, da alle nach Hause fahren und man somit möglicherweise mit Leuten im gleichen Zug sitzt, die man noch aus der Heimat kennt. Dort das letzte Mal gesehen hat. Und es eigentlich dabei belassen wollte.

Auf dem Weg nach Hamburg stieg ich heute wie üblich in das falsche Zugabteil. Ich hätte in den Wagen 24 abbiegen können, aber ich ging nach rechts in den Wagen 23, und es war vorherzusehen, dass es der falsche sein würde, weil ich prinzipiell immer die falsche Abzweigung nehme: an Supermarktkassen, an Flughafensicherheitskontrollen, überall. Ist hier noch frei, fragte ich ein Mädchen mit randloser Brille und Acrylschal, das Ohrringe bastelte und mit Oma telefonierte, und noch bevor sie freundlich lächeln und nicken konnte, wusste ich, dass es zu spät war: Auf dem benachbarten Sitzplatz hatte soeben, hinter meinem Rücken, ein alter Bekannter aus Hamburg Platz genommen, Sebastian, der sich immer Sébastien genannt hatte und dabei wahnsinnig französisch vorgekommen war. Er trug eine Käppi auf dem Kopf und einen Stapel französischer Modemagazine unterm Arm. Ich kannte ihn kaum, und wahrscheinlich war er ganz nett, aber jedes Mal, wenn ich ihn sah, ging er mir fürchterlich auf die Nerven.

Leider war er schneller als ich. Bevor ich reißaus nehmen konnte, streckte er schon die Arme aus, weitete vor lauter gespielter Überraschung die Augen, wobei seine Augäpfel irgendwie beängstigend weit aus seinen Augenhöhlen hervortraten, und rief viel zu laut: „CLAIRE!“. Dabei umarmte er mich und schlug mir kräftig auf den Rücken. Es war die Art von Umarmung, mit der man seinen besten Freund nach dessen zehnmonatiger Südamerika-Reise begrüßt. „Fährst du auch nach Hamburg?“ Wir saßen im Zug nach Hamburg. „Nee, nach München“, sagte ich. Der Sitzplatz neben mir war frei, also stellte ich meine Tasche und meinen Laptop darauf ab und tat so, als müsste ich jetzt ein sehr wichtiges Telefonat führen. „Ist hier noch frei?“, fragte da ein dünner Mann mit fettigen Haaren und Karstadttüte und zeigte auf den Platz neben mir. Auf die Idee, einfach Nein zu sagen, kam ich leider zu spät. Die nächsten 180 Minuten verbrachte ich neben einem Mann, der wie ein Furz roch.

„Lilli!“, brüllte Sebastian jetzt durch das Abteil, und dann kam Lilli und ich musste feststellen, dass ich leider auch Lilli kannte, was Sebastian zu der einfallsreichen Bemerkung „Wahnsinn, und wir alle auf dem Weg nach Hamburg!“ veranlasste. Der Zug fuhr los. Ich versuchte mich zu entspannen. „Liebe Fahrgäste, aufgrund einer Oberleitungsstörung wird dieser Zug heute umgeleitet. Die Fahrt verzögert sich deshalb um 60 Minuten. Des Weiteren möchten wir sie auch auf das Angebot unseres Bordrestaurants aufmerksam machen.“ Diese Gauner, dachte ich, halten einen eine Stunde länger im Zug neben nach Furz stinkenden Menschen gefangen, nur um den Umsatz im Bordrestaurant zu steigern. Wie auf Knopfdruck öffnete sich jetzt auch die Abteiltür und ein dicker kleiner Mann schob einen Rollwagen durch die Sitzreihen. „Kalte Getränke…“ sagte er monoton und schlurfte vorwärts. „Snacks“… „Oder eine Vollkornschnitte?“

Im Hogwarts-Express gäbe es jetzt Schokoladenfrösche.

„Claire!“ brüllte Lilli zu mir herüber. Ich hatte mich zu früh in Sicherheit gewähnt und gerade mein imaginäres Telefongespräch beendet. „Wie feiert ihr Weihnachten?“ Im Abteil war es still, alle Leute waren irgendwie beschäftigt oder lauschten der Wagonstille und dem dumpfen Intercity-Express-Rauschen, und ich fand es geradezu frech, dass sich Lilli jetzt ernsthaft mit mir über Weihnachten unterhalten wollte. „Zuhause“, sagte ich. Die Beermann’schen Weihnachtsgewohnheiten gehen das ICE-Großraumabteil einen feuchten Kehricht an. Dann drehte ich mich weg von den Leuten, dem ICE-Kellner, den alten Bekannten und dem stinkenden Sitznachbarn, atmete durch den Mund, schaute aus dem Fenster, sah grüne Felder und dicke Wolken und darunter die letzten Sonnenstrahlen des Tages, und da fiel mir ein, dass heute der kürzeste Tag des Jahres war, also schon morgen, noch vor Weihnachten, die Tage wieder länger werden würden, und das war ein gutes Gefühl. Ich klappte meinen Laptop auf, setzte mein geschäftigstes Sprich-mich-bloß-nicht-an-Gesicht auf und schrieb diesen Text.