Warten auf den Browser

ER. HÄNNNNNGGGGGGTTTT. FESTTTTTT.

Bildschirmfoto 2016-04-02 um 9.37.56 PMSeit zwei Minuten geht das jetzt schon so. Ich sitze am Computer und habe drei Chrome-Fenster, mein Fotoprogramm und Spotify geöffnet. Nichts passiert. Ich wische hektisch über die Maus, hämmere wahllos auf der Tastatur herum, hebe den Laptop hoch und schüttele ihn ein bisschen. Der Bildschirm bleibt stumm und unbeweglich. Aus dem Gehäuse unter der Tastatur tönt ein leises Schnaufen.

Da! Ein Ruck. Vor ungefähr dreißig Sekunden habe ich versucht, eines der Chrome-Fenster nach links zu verschieben. Jetzt bewegt sich das Fenster, stotternd, humpelnd, wie ein alter Mann. Dann verschwindet der Curser. Stattdessen ist da jetzt eine regenbogenfarbene Scheibe zu sehen, und sie dreht sich. Ich muss ihr dabei zuschauen. Die bunte Scheibe macht sich immer wieder einen Spaß daraus, mit meiner Geduld zu spielen wie mit einer willenlosen Marionette. Früher war diese bunte Scheibe mal eine freundliche Sanduhr. Ihr Anblick nährte noch die Hoffnung, die Zeit des Wartens würde schon irgendwann abgelaufen sein. Bei der lustigen bunten Scheibe bin ich mir da nicht so sicher.

Es ist Dienstagmorgen, 8:30 Uhr, ich wollte vier Emails schreiben, eine Jacke bei eBay einstellen und ein paar Artikel auf Vanityfair.com lesen. Das Vanity-Fair-Fenster ist vor einer halben Minute eingeschlafen, im Tab dreht sich ein blaues Rad, langsam, manchmal stockend. Dann springt die Adresse im Browser plötzlich auf Vanityfair.fr um. „La longue histoire d’amour de la reine Elizabeth II et ses corgis“ ist der erste Artikel auf der Seite. Ah non. Ich wollte doch zur amerikanischen Seite. Ich klicke auf „Vanity Fair dans le monde: États-Unis“. Die Seite wird weiß. Stockt. Im Tab dreht sich das blaue Rad, der Curser ist wieder verschwunden. Ich hämmere auf die Maus ein, wische hin und her. Da! Widerwillig kommt er aus der oberen Bildschirmecke gekrochen, ach nein, gerollt, denn schon hat er sich wieder hinter der bunten Scheibe versteckt. So ein Rindvieh, dieser Curser.

Im Hintergrund höre ich eine Jazz-Playlist auf Spotify. Gerade läuft ein sehr experimentelles Free-Jazz-Stück, das Klavier klimpert munter am nicht vorhandenen Takt des Basses vorbei. Das Stück läuft schon seit sieben Minuten. Ich kriege Kopfschmerzen, aber ich wage nicht, das Spotify-Programm anzuklicken, denn aus Erfahrung weiß ich schon, was dann passiert: Mein Computer ist körperlich schon bei Spotify, mental aber noch auf Vanityfair.fr. Multitasking ist leider nicht so sein Ding. Schnelles Umschalten überfordert ihn, jetzt ist er so durcheinander wie ein dementer Senior, der sich in seinem eigenen Stadtteil verlaufen hat und in der Not einen Passanten fragt: „Ist das hier Italien?“

Ich glaube, mein Computer leidet an einem Hirnschaden. Er checkt einfach gar nichts. Was mich allerdings noch viel mehr in den Wahnsinn treibt als seine Begriffsstutzigkeit, ist meine Abhängigkeit von ihm. Ohne dieses Gerät kann ich nicht arbeiten. Ohne dieses Gerät kann ich nichts. Ich kann nicht recherchieren, ich kann nicht schreiben, ich kann nicht kommunizieren, ich kann nicht mal zwischendurch abschweifen und mir auf Net A Porter Bikinis angucken, bevor ich den nächsten Textabsatz schreibe. Wäre mein Computer ein kompetenter Mitarbeiter, würde mich meine Abhängigkeit von ihm nicht stören. Ich würde sie gar nicht bemerken, und meinen Laptop stattdessen eher als einen besonders teamfähigen Kollegen betrachten. Leider hat er mehr Ähnlichkeit mit einem störrischen Dackel, der sich beim Gassigehen einfach auf den Gehweg setzt und nicht weiterlaufen will.

Irgendein superreiches Technologie-Genie, ich glaube, es war Bill Gates, hat einmal gesagt: „Die Leute wundern sich nie, wenn etwas funktioniert. Sie wundern sich nur, wenn es nicht funktioniert.“ Ich sollte mich also häufiger darüber freuen, wenn mein Computer tut, was ich von ihm verlange. Ich sollte seine Fähigkeiten wie die kniffligen Tricks eines Zauberers bewundern, und ihn womöglich noch wie einen endlich stubenreinen Hundewelpen loben, wenn er es geschafft hat, das Chrome-Fenster in weniger als 25 Sekunden zu öffnen. Ja fein!

Der Unterschied ist, dass ein Welpe süß ist, mein Computer aber über 1000 Euro gekostet hat. Dafür sollte er mehr können. Ich bin wütend. Jetzt ist es 8:55 Uhr, und ich frage mich, wofür ich eigentlich um 7 Uhr aufgestanden bin, denn ob man mit so einem nichtsnutzigen Kollegen arbeitet, oder gar nicht arbeitet, macht keinen Unterschied. Jedes Mal, wenn ich meinen Computer zu irgendetwas auffordere, und sei es nur eine so lächerliche kleine Aufgabe wie „Schließen“ oder „Senden“, fängt er an zu stottern und zu schnaufen.

Oder ist das eher ein Schnurren, das da aus seinem Gehäuse tönt?

Genießt der Computer gar den Anblick meiner zappeligen Nervosität? Ich bin jetzt wie ein Heroinabhängiger, der seine Dosis nicht bekommt. Fieberhaft hämmere ich auf die Tastatur ein. Ich versuche aus dem Fenster zu schauen und mich zu beruhigen, ich nehme einen Zettel und fange an, die Email, die ich gerade tippen wollte, per Hand aufzuschreiben, aber nach wenigen Sekunden habe ich das beruhigende Aus-dem-Fenster-Schauen und das anstrengende Mit-der-Hand-Schreiben satt.

ICH WILL JETZT ENDLICH ARBEITEN!!!!!!!

Wie krank bin ich eigentlich? Mittlerweile ärgere ich mich mehr über mich selbst als über meinen armen alten Laptop. Wahrscheinlich habe ich ihn einfach überstrapaziert in all den Jahren der Sucht. Das eine Mal, als ich beim nächtlichen Serien-Schauen einschlief und das Gerät aus dem Bett fiel. Die unzähligen Male, die ich den nach Strom schnappenden, vor lauter Stromnot schon rot angelaufenen Computer bis zur Bewusstlosigkeit folterte, und das nur, weil ich zu faul war, nach dem Kabel zu suchen. Und immer wieder habe ich den Computer per anhaltendem Knopfdruck k.o. geschlagen, anstatt ordentlich alle Programme zu beenden und ihn anschließend auszuschalten. Das hat ihm bestimmt auch nicht gefallen.

Der Computer wurde erfunden, um uns das Leben leichter zu machen. Dieser Luxus hat uns verwöhnt, vor allem aber unsere Ungeduld geschärft. Ich wüsste gar nicht mehr, wie ich ohne Google Maps den Weg zum nächsten Badesee finden sollte. Bevor ich in ein neues Restaurant gehe, will ich unbedingt die Speisekarte lesen. Ich fluche, wenn eine Email mal ein paar Minuten im Postausgang festhängt, und werde ungehalten, wenn ich nicht innerhalb von zwei Tagen eine Antwort darauf bekomme.

Das einzige, was gegen diese Abhängigkeit hilft, ist natürlich knallharte Abstinenz. Öfter mal einfach drauflos spazieren und gucken, wo man landet. Sich auf die Überraschung im Restaurant freuen. Vielleicht sogar mal einen Brief statt einer Email schreiben. Oder einfach anrufen. An die Kunst des analogen Lebens erinnert uns der streikende Computer. Wer weiß? Vielleicht ist seine gelegentliche Behäbigkeit sogar eine extra eingebaute Funktion, um mich endlich zur Entschleunigung zu erziehen?

Illustration von Charlotte Fassler